One-Night-Scham und Filter-Flucht

Von Daniela Gaßmann

„Oh. Mein. Gott“, begann die Geschichte meiner Freundin. „Mir ist sowas Peinliches passiert, heute. Einfach zu krass! Da gab es diesen Typen, auf Tinder, der mich ständig mit irgendwelchen Momenten vollgespamt hat. Das sind diese Fotos, die man im Chat verschicken kann. Jedenfalls hat der mich echt genervt mit seinen Selfies, im Muskelshirt oder gleich oben ohne. Ich hab zwar noch zurückgeschrieben, aus Langweile versteht sich, und sein Körper war eben auch nicht schlecht, fand den aber echt total seltsam. Und heute – du glaubst nicht, wie peinlich das war – sehe ich den ernsthaft vor der Uni.“

 

Nach ihrer spannungstechnisch einwandfreien  Einleitung war ich ziemlich neugierig. Ich also: „Ja und dann? Jetzt erzähl schon, wie es weiterging.“ Von ihrer Seite gab es daraufhin nur ein langgezogenes „häää“, weil es gar nicht weiterging. Die ganze Geschichte war: Meine eigentlich ernstzunehmende und selbstbewusste Freundin S. schämt sich, weil sie einem Tinder-Typen im filterlosen Leben begegnet. Um ihn ignorieren zu können und einem noch größeren Drama zu entgehen, musste sie natürlich mit beschäftigtem Blick „galegelglsjglsgj“ in ihr Handy hämmern, wie sie mir erklärte. Warum meine eigentlich ernstzunehmende und selbstbewusste Freundin so peinlich berührt von ihrer Begegnung war, kann wiederum ich erklären:

 

Aufreißen ist im 21. Jahrhundert zwar besser getarnt, aber tatsächlich noch immer genauso spießig wie die CSU und Sonntagsgottesdient im 21. Jahrhundert. Die meisten Leute halten sich dabei an mehr Regeln als beim Autofahren. Und niemals verlassen sie zwei gut isolierte, schalldichte Räume: Den Club und den, die oder das Tinder. Und falls sie es doch tun, werden sie bestraft.

 

Spießer in da club

 

Beginnen wir chronologisch: mit dem Club. Wenn jemand ungebundenen Sex haben will, dann sucht er den am besten unter Discokugellicht. Wenn das entsprechende Etablissement gut ist, geht es da nämlich richtig wild zu (denkt man). Verklemmtheit kann sich am Türsteher selten vorbeischleichen – und selbst wenn, mit Alkohol verträgt sie sich nicht besonders gut (denkt man). Was dann passiert kennt jeder von sich oder/und anderen, am Ende jedenfalls der Flirt, Kuss oder One-Night-Stand. Das ist natürlich krass (denkt man), sogar so krass, dass man sich fast ein bisschen genieren darf, schließlich machen fremde Menschen intime Sachen.

 

Man sollte sich da aber nicht vom Discokugelschimmer blenden lassen und bedenken: Spätestens der dritte Gin Tonic oder die vierte Wodka Mate schaltet die Suchenden in Autopilot. Eigentlich muss man gar nichts mehr machen, weil das schon der Alkohol und die ausgelassene Atmosphäre erledigen. Dank dem Türsteher und unterschiedlichem Hipness-Grad sowie Musikauswahl eines Clubs kommen sowieso nur Menschen mit ähnlichen Steckbriefen beisammen. In der stickigen Schweißluft liegt die gemeinsam geteilte Gewissheit: Wir alle sind heute Nacht mal offen. Die Ausgänger fühlen sich ganz leicht und jung und wild; wissen von den anderen, dass sie das auch sind – bis zum nächsten Morgen, den ich als empirische Bestätigung für meine Argumentation heranziehe: Auf den One-Night-Stand folgt die One-Night-Scham.

 

Man findet es in der Regel genierenswert, dass fremde Menschen intime Sachen gemacht haben, und man einer dieser Menschen ist. Eventuell reicht es dann noch für ein Frühstück oder eine deplatzierte Kennenlern-Unterhaltung („Oh, wie interessant, du studierst Grafikdesign. Achso, ähm, ich heiße übrigens Paul. Und du?“). Bei dieser ist es ganz wichtig, immer wieder damit zu kokettieren, wie betrunken man war, hihihi. Metabotschaft: Für alles, was passiert ist, trage ich keine Verantwortung, es war der Alkohol. Wer mühsamem Small-Talk und Unschuldsbeteuerungen entgehen will, stiehlt sich einfach aus dem fremden Zimmer und denkt dabei vielleicht sogar sowas wie: „Ach herrje, gestern Abend sah der/die irgendwie besser aus.“

 

Im echten Leben flirten die Verzweifelten

 

Undenkbar, denselben Aufriß im Wartezimmer des Zahnarztes oder beim wöchentlichen Klopapierkauf zu tätigen. Man wüsste gar nicht recht, wie anfangen oder weitermachen. Jemandem sein Interesse ganz spontan und ortsunabhängig zu zeigen, erfordert eine größere Portion Mut, als die meisten Flirtwilligen mit sich herumtragen. Wer das Anflirten auf offener Wildbahn trotzdem schafft, der bereut es dann leider mit hoher Wahrscheinlichkeit. Weil der/die Angeflirtete entweder überfordert ist oder peinlich berührt, genau wie meine eigentlich so selbstbewusste Freundin S. bei ihrer unfreiwilligen Tinder-Begegnung. Vielleicht ist er/sie auch schon vergeben. Oder kommt auf den durchaus logischen Schluss: Wenn mich jemand schon einfach so anspricht, muss das ja wohl ein Zeichen von Verzweiflung sein.

 

Wo wir ja in einem total durchdigitalisierten Zeitalter leben und wir (damit meine ich natürlich die anderen) in letzter Zeit exzessiv über geschönte Profilfotos wischen, fühle ich mich verpflichtet, die reale Welt für meine Argumentation zu verlassen und in einen zweiten Raum einzutreten: Tinder. Die gemeinsam geteilte Gewissheit, dass der Gegenüber einem Flirt grundsätzlich nicht abgeneigt ist beträgt hier exakt 100,00 Prozent. Das Risiko ist gleich null, der Aufwand ähnelt der Anstrengung und Bewegung von einmal Nasekratzen: Ein „Hey du, ich bin…“ oder „Ich find dich gut!“ wird ersetzt durch ein Zeigefingerwischen, an dem nicht einmal die größte Flirtlusche scheitern kann. Man kann sich hinter einem Display und Filtern verstecken. Man muss weder das Haus noch die Joggingklamotten verlassen, und kann sich nebenher eine Tüte Chips oder Trash-TV reinziehen. Man kann sich im Chat vortasten und, wenn man dann etwas weiter ist, auf Facebookprofilen hilfreiche Infos fürs erste Date sammeln. Und für die Tatsache, dass man überhaupt bei einer Datingapp angemeldet ist, hat man natürlich die gemeinsam geteilte Ausrede parat: „Ich mein das eigentlich gar nicht ernst, alles voll ironisch.“

 

Die verpasste Chance des Klopapierkaufs

 

Dass sich zum Flirten alle in zwei Räume drängen müssen, ist schon schade. Viel zu eng eben. Und – wie gesagt – auch äußert spießig und unspontan. Mit kulturpessimistischer Panikmache kann ich wenig anfangen, aber wie sich so viele Gleichaltrige in Tinder retten und nur noch angedüdelt zur körperlichen Liebe kommen, macht mich gernerationspessimistisch: Hat denn keiner den Mut, mal spontan und ehrlich zu sein? Andererseits gebe ich zu: Es macht eine ohnehin ziemlich nervenaufreibendste Sache eben auch ein bisschen einfacher. Es ist beruhigend, wenn man weiß, wo man den nächsten Flirt finden wird. Schön außerdem, dass man sich beim Zahnarzt oder Klopapierkauf statt in Partsychale in Joggingzeugs schmeißen kann, weil kein Flirtpotenzial besteht. Wäre ja irgendwie anstrengend. Wenn man dann aber außerhalb vom Club oder Tinder jemand Tolles entdeckt, ist die eigene Verklemmtheit doch recht ärgerlich. Und schwach ist sie eben auch. Also, wie wäre es, wenn ihr euch mal mit ein bisschen weniger Gin Tonics und Filtern am Flirten probiert? Vielleicht gibt es da draußen, auf den Straßen und in den Supermärkten der Welt, ja ungeahnte Möglichkeiten. Und wenn nicht, dann wart ihr wenigstens mutig

 

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Bildquelle: Andreas Ronningen unter cc0 1.0