Warum Tinder und Philosophie mehr gemeinsam haben als du denkst
Neulich habe ich mich dabei ertappt, wie ich Tinder genutzt und gleichzeitig einen YouTube-Beitrag zum Philosophen Albert Camus über die Absurdität der Welt angehört habe. Warum ich das tue? Gute Frage. Jedenfalls empfand ich mich selbst in diesem Moment als extrem groteske Schöpfung unserer Zeit. Tinder und Philosophie… Das kann man sich beides gleichzeitig geben, keine Frage. Ich tat es – und kam nicht umhin, über diese, auf den ersten Blick doch recht unterschiedlichen Systeme nachzudenken.
Auf Sinnsuche zwischen Larsen, Michaels und Steffens
Der deutlich größere Teil meiner Aufmerksamkeit lauscht dabei gerade Camus‘ Caligula: „Es war schwer zu finden?“ „Was denn?“ „Was ich haben wollte.“ „Was wolltest du denn?“ „Den Mond.“ Gleichzeitig wische ich immer wieder Steffens („1,86 cm // 82 kg“), Philipps („33 – selbst und ständig“) und Michaels („just find out *fiesgrins*“) nach links. Ab und an einen Lars (mit geradezu grotesk süßem Lächeln) nach rechts. Dazwischen: Sekundenschlaf. Ich bekomme nicht mehr mit, wen ich da wohin wische. In etwa so, als ob man übermüdet liest und dabei nur noch die Buchstaben mit den Augen erfasst, den Inhalt aber längst nicht mehr aufnimmt. Das ist der Zeitpunkt, an dem ich beschließe, aufzuhören. Was suche ich gerade? Ablenkung, weil ich nicht einfach aus dem Fenster schauen möchte, während ich mich von Camus verwöhnen lasse?
App-gewordenes Teufelszeug
Die Frage „Was suchst du eigentlich auf Tinder?“ hat jeder Nutzer schon mindestens einmal gehört. Manchmal gibt es vom Fragesteller auch nur folgende vorgegebene Antworten: Sex oder Liebe? Was soll man darauf antworten? Prozentsatzangaben vielleicht? „Ja ich dachte so an 30 % Liebe und 70% Prozent Sex.“ Oder Zeitangaben: „Montag und Dienstag bitte nur Sex, Sonntag gerne auch ein bisschen romantische Zweisamkeit, da hab ich immer so ’nen Depri-Kater.“ Es scheint um das Suchen und Finden, um das haben wollen und auch um das Bekommen oder eben nicht Bekommen zu gehen. Bei dieser teuflischen Tinder-App, die zuweilen als Apokalypse jeglicher Romantik und als Untergang der Fähigkeit andere Menschen lieben zu können, betitelt wird. (Puhh, Gott sei Dank gibt es ja jetzt Once!)
Partnersuche als Zeitvertreib
Was suchen die Menschen also bei Tinder: Sex, unverbindliche Bekanntschaften, Aufmerksamkeit, Selbstbestätigung, Liebe, die Möglichkeit sich am jeweils anderen Geschlecht zu rächen? Ist ihnen am Ende des Tages einfach nur langweilig? Mir ist manchmal einfach nur fad. Ich bin ein Mensch, der immer was zu tun braucht – ein bisschen ruhelos sozusagen. Wenn ich krank bin und zu Hause bleiben muss, tindere ich daher auffällig häufig und viel. Mein Hörspiel im Hintergrund läuft weiter. Camus‘ Zitator konstatiert: „So wie die Dinge sind, scheinen sie mir nicht befriedigend.“ „Diese Meinung ist ziemlich weit verbreitet.“ „Das stimmt, aber früher wusste ich es nicht, jetzt hingegen weiß ich es.“ – Hmm, ja ganz klar, um Bedürfnisbefriedigung jeglicher Art geht es bei Tinder natürlich auch. Ungenügend scheint die Auswahl an Menschen in der realen Welt zu sein. In einem virtuellen Raum wie Tinder potenzieren sich die Möglichkeiten, Bedürfnisse zu befriedigen, oder? Ja, nein, vielleicht?
Tinder ist so absurd wie das Leben
Die Philosophie hat ein zentrales Thema: Die Suche nach dem Sinn der Welt. Dieser Sinn soll den Menschen Trost schenken. Denn: Sie wollen immer irgendetwas – und sind bereit, danach zu suchen. Wenn sie es partout nicht bekommen oder wenn es ihnen mit Gewalt genommen wird, fragen sie nach dem Sinn: „Warum?“ Dann brauchen sie Antworten, die sie vielleicht in der Religion oder der Philosophie finden können. Camus‘ zentrale Aussage ist: Es gibt überhaupt keinen Sinn. Das Leben ist absurd. Es muss einfach gelebt werden, als glücklicher und freier Mensch. Und genau an dieser Stelle kann eine entscheidende Parallele zu Tinder gezogen werden: Tinder ist absurd und ohne Regeln, wie das wahre Leben. Manche Menschen wollen einfach nur ihren Fußfetisch ausleben oder ihren aufgepumpten Oberkörper beziehungsweise ihr pralles Dekolleté zur Schau stellen. Andere sind gerade auf der Durchreise und suchen irgendeine Form von Unterhaltung und Gesellschaft. Wiederum Andere ziehen zusammen und kriegen Tinder-Kinder.
Ja, Tinder ist absurd, aber nicht absurder als die Realität. Es erscheint nur alles auf den ersten Blick ein bisschen verfügbarer (was täuschen kann), weil altmodische Faktoren wie Zeit und Ort keine Rolle mehr spielen, um mit wildfremden Menschen in Kontakt treten zu können. Wir halten fest: Tinder ist absurd oberflächlich und ergibt keinerlei Sinn. Aber: Das ist nicht weiter tragisch oder verwunderlich. Denn: Der Rest des Universums tut es auch nicht – zumindest nicht, wenn man dem großen Albert Camus glauben darf.
Folge ZEITjUNG auf Facebook, Twitter und Instagram!
Bildquelle: Bruno Gomiero unter CC0 Lizenz