Tinder Date Frust

Tinder ist nicht scheiße, Tinder wird nur falsch genutzt

Ich stehe im Supermarkt an der Kasse. Vor mir die typische Birkenstock-Hippie mit Bio-Nuss-Mischung. Mein Kassierer ist der gemütlichste Mensch der Welt. Gelangweilt schaue ich mich um und sehe zwischen den Regalen hindurch an der anderen Kasse das wohl hübscheste Mädchen der Welt. Einfach so. Sie zahlt und lehnt den Kassenzettel ab. Eine tolle Stimme hat sie auch noch. Und ich hänge bei dieser Schlaftablette fest. In Zeitlupe bekomme ich mein Wechselgeld und hechte auf die Straße, aber sie ist weg.

Enttäuscht suche ich meine Wohnung auf und sehe mich mit zwei Optionen zurück gelassen: A) Ich hänge altmodisch die nächsten Tage vor dem Supermarkt rum, bis sie wieder auftaucht. Oder B) Ich nutze die Mittel der Moderne und habe vielleicht Glück, sie bei Tinder zu entdecken. Im Nachhinein erscheint mir dieser Gedanke auch sehr weit hergeholt.
Obwohl ich tierischen Hunger habe, stürze ich mich daheim statt an den Herd sofort auf mein Handy und swipe los.

 

Wenn sie Single ist, muss sie bei Tinder sein! Ich meine, da ist doch Jeder oder?

 

Nach einer halben Stunde „Nach-Links-Swipen“ noch immer kein Erfolg, aber es beginnen sich Fragen aufzudrängen: Bin ich eventuell zu alt und rutsche mit meiner ehrlichen Altersangabe aus ihrem Suchradius?; Hätte ich doch vor dem Supermarkt campen sollen?; Wer bestimmt eigentlich, wen ich zuerst sehe? Und bestimmt diese Reihenfolge irgendwann über den Verlauf meines Lebens?

Fragen, die ich nicht beantworten kann, aber mir fällt etwas Anderes auf: Die unglaubliche Oberflächlichkeit dieses System. Jetzt bitte nicht gleich gähnen und aufhören zu lesen. Mir ist klar, dass es nur auf einer technischen Ebene versucht, die Realität widerzuspiegeln und wir mit unseren Augen nun mal auf sexuelle Reize reagieren.

Ich erinnere mich an die Zeit, als Nachmittags noch Talkshows wie „Britt“ oder „Andreas Türck“ im Fernsehen liefen. Dort wurde der typische Prolet als oberflächlich bezeichnet, weil er nur hübsche Frauen ansprach, und so polarisierend inszeniert die Shows damals wie heute waren, gestand er laut: „Ja! Natürlisch! Denkste ik spresch die Fetten und Hässlischen an oder wat?!“
Nicht ganz politisch korrekt, aber im Grunde hat er Recht.

 

Es kommt uns allen irgendwie falsch vor, trotzdem nutzen wir alle Tinder

 

Dabei kollidiert die Art und Weise wie Tinder funktioniert ziemlich mit unserer Erziehung und vielleicht sogar mit unserem sozialen Anstand. Tinder funktioniert nämlich, in dem man auf den ersten Blick beurteilt beziehungsweise noch etwas schlimmer: verurteilt und das ist in unserer Gesellschaft eigentlich verpönt.

Doch trotzdem funktioniert Tinder, denn im Prinzip macht es nichts anderes, als das, was wir in der Öffentlichkeit sowieso die ganze Zeit machen. Tinder erfüllt das gleiche Prinzip nur digital vom Sofa aus. Also ist die Realität nicht anders als Tinder. Nun ja, fast, denn es erfüllt die Aufgabe etwas schlechter.

 

Tinder ist kein Facebook oder Instagram

 

Tinder ist eigentlich ziemlich beschränkt, denn es zeigt uns nur wie jemand möchte, dass wir ihn sehen. In München scheinbar als Thailand- und überhaupt Weltreisende, sportliche, chice, bergsteigende, heimatverbundene, von vielen Freundinnen umgebene Weltverbesserin, die vegan lebt und gerne einen reichen Mann mit Hund oder Katze hätte. Als wäre es ein Supermarkt. Irgendwie ist es auch einer. Oder eigentlich eher eine Börse: Biete tolle Lippen und täglich gepflegtes Fahrgestell gegen Bauchmuskeln und Porsche.

90% der Frauen auf Tinder scheinen davon überzeugt zu sein, dass sie mit diesem Eindruck die besten Chancen haben. Aber es ist nur ein selbst inszeniertes Image. Außerdem bestätigt es in München ein besonderes Klischee:

 

Alle tragen das gleiche

 

Obwohl angeblich jeder Mensch unterschiedlich sein soll, machen hier irgendwie alle das gleiche. Thailand, Hund, Freundinnen, Selfie, Selfie, Thailand, Selfie, Thailand, Strand… in Thailand, Katze, Selfie mit Katze oder Hund.

Ich habe den Eindruck, die Frauen versuchen sich krampfhaft zu verkaufen, dabei stellen sie aber etwas dar, was sie die meiste Zeit über nicht sind. Es sei denn, sie arbeiten in Thailand.

Das klingt jetzt sehr einseitig, denn ich schätze das Gleiche gilt auch für die Männer auf Tinder, aber das kann ich hier nicht bestätigen, denn ich suche ja nach Frauen. Also stellt euch einfach den gleichen Text vor, nur mit dem Wort „Mann“ anstelle von „Frau“.

 

Wozu sein wollen, was man nicht ist?

 

Der Große Unterschied zwischen Tinder-Profil und Realität wird schnell beim Daten klar. Da schafft man es leider keine 10 Minuten, das Gesicht vorteilhaft im Licht zu halten wie beim perfekten Selfie und das Baucheinziehen wird bereits nach 20 Minuten zu anstrengend. Außerdem fällt plötzlich die schiefe Nase auf und man schafft es einfach nicht, das kleine Grunzen beim Lachen zurück zu halten.

Alles Dinge, die ehrlich sind und die man nur erfährt, wenn man sich persönlich gegenüber steht. Wie jemand riecht, wie sich jemand bewegt, wie er lacht und vielleicht sogar rot wird.

Wunderschöne und liebenswerte Sachen, die uns nicht perfekt, sondern besonders machen und die kleinen Dinge, die uns ineinander verliebt lassen. Und darum geht es doch, oder? Wer will denn die perfekte Frau? Das ist todeslangweilig und macht uns selbst irgendwie schlecht.

Das perfekt inszenierte Tinder-Profil ist ähnlich wie ein Push-Up-BH. Hinterher ist die Enttäuschung groß, weil das Profil etwas anderes versprochen hat.

In dem man offensichtliche Dinge verschweigt und versucht jemanden darzustellen, der man eigentlich nicht ist, liegt beim ersten Date irgendwie immer ein Hauch von Enttäuschung in der Luft. Die Enttäuschung kommt durch falsche Erwartungen, die wiederum durch die Inszenierten Fotos auf Tinder geweckt wurden.

 

Gruppen-Selfies auf einem Berg in Thailand mit Hund auf dem man dann nur euren Rücken und die abgeschnittene Schulter eines Mannes sieht

 

Es ist nicht nur die Selbstinszenierung, die Tinder von der Realität abhebt, es ist auch die realitätsfremde und oft sinnlose Auswahl der Profilfotos. Es folgt eine Aufzählung:

– Selfies, die mir die Frage aufdrängen, ob ihr keine Freunde habt, die ein schönes Foto von euch machen.

– Wanderfotos, auf denen ihr ganz klein auf einem riesigen Berg zu sehen seid. Ich weiß wie Berge aussehen, aber euch kann ich nicht erkennen.

– Ein Gruppenfoto mit weiteren Frauen darauf. Der Klassiker. Meist gefolgt von weiteren Gruppenfotos. Welche Frau seid ihr, zur Hölle? Wenn das Ausschlussverfahren von Bild zu Bild nicht funktioniert, dann müssen wir leider von der unattraktivsten ausgehen.

– Thailand. Ich will nicht mehr darüber schreiben. Ihr wart scheinbar alle da. Sieht wirklich toll aus am Strand. Eure Hot-Dog-Legs auch. Eine wie die Andere.

– Auf dem Foto seid ihr mit einem anderen Mann zu sehen. Noch ein Klassiker. Das ist in einer Dating-App sehr irritierend. Hoffentlich euer Bruder. Die Tatsache, dass ihr diesen Mann umarmst löst das Rätsel leider nicht auf.

– Schlimmer ist meist die abgeschnittene Schulter eines Mannes. Da zu liken fühlt sich in etwa so falsch an, wie eine Frau mit Ehering zu küssen.

– Auch schon gesehen wurden Hochzeitskleider, aber dazu muss ich jetzt nichts sagen. Sollte klar sein.

– Und dann gibt es noch Fotos mit Rücken zur Kamera, allgemein kein Gesicht, nur Füße, Hände, alles verschwommen und natürlich ist es dann das einzige Bild.

Wenn man das auf die Realität überträgt, entspräche ich in etwa dem Kurzsichtigen, der versucht auf einer Hochzeit in Thailand auf Hundert Meter Distanz aus lauter gleich aussehenden Frauen die Frau meiner Träume zu finden und dabei nicht die Braut zu erwischen.

Also wenn Tinder die Oberflächlichkeit der Realität imitiert, dann aber bitte richtig und ohne zu schummeln. Denn man sieht im Supermarkt auch den Körperumfang, die Größe, den Brustumfang, die Hände – aus irgendeinem Grund sind mir die wichtig -, die Augen, die Haare und so weiter. Beim Date später sowieso und dann ist doch eine positive Überraschung besser als eine kleine Enttäuschung.

 

Was also dann zeigen?

 

Ich finde, man sollte selbst zeigen, was man bei dem Anderen sehen will. So einfach.

Und am Ende fällt mir auch die Ironie auf, eine tolle Frau in einem Supermarkt zu sehen und sie dann in einem Online-Single-Supermarkt wieder zu suchen. Ach ja, du wunderhübsche Dunkelhaarige mit den weißen Sneakern und der tollen, dunklen Stimme, es war vor einem Monat, ungefähr halb sechs am Abend in der Münchner Türkenstraße. Wenn du weißt, dass ich dich meine, melde dich.

Matthias Starte ist Autor und Filmemacher. Im Norden geboren, in München Zuhause. Am liebsten isst er Bacon-Cheeseburger, trinkt dazu Spezi und redet mit anderen Vinyl-Snobs über Interviews mit Questlove. Aktuell arbeitet er an seinem Langfilmdebüt und schreibt diese Kolumne über Liebe und Beziehung.

Bildquelle: arileu unter CC by 2.0

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