Ubahn-Liebe

U-Bahn-Liebe: Über das Schockverliebtsein

Schnell mal das Telefon in die Tasche des schönen Fremden schmeißen. Es geht um den Moment, in dem wir zu feige sind, den Mund aufzumachen, aber spüren, dass da was ist. Die Liebe schlägt ein zwischen abgewetzten Lederbezügen und prolligen Jugendlichen. Wenn Blicke sich treffen und das Handy zur Seite gelegt wird, kannst du dir sicher sein, dass ein klassischer Fall von U-Bahn-Liebe vorliegt.

Die Sache mit dem „Handy anderen Leuten zustecken“ ist übrigens eine ziemlich schlechte Idee, aber darum soll es hier ja auch nicht gehen. Lasst uns mal ehrlich sein: Würden wir jede Schockverliebtheit ausleben, wo kämen wir denn da hin? Das wunderschöne Mädchen gegenüber würde sich als nervige Quasseltante herausstellen und der Typ mit den verträumten Augen als Nickelback-Fan. Also mal lieber sein lassen und weiter feige sein. Was wir aber auf keinen Fall verhindern sollten, sind die kleinen Momente, die uns mindestens die Fahrt zur Arbeit und manchmal sogar den ganzen Morgen versüßen. Denn nichts bietet so eine locker-lässige Flucht aus dem Alltag, wie die kleine erträumte Lovestory. Unkomplizierter geht es wohl kaum.

So schnell, wie die Schockverliebtheit kommt, so verfliegt sie auch wieder und trotz der scheinbar so intensiven Gefühle, wird sie auch verhältnismäßig schnell wieder vergessen. Was soll man auch tun, als so schnell wie möglich, die wild erträumten Zukunftspläne wieder zu vergessen? Dann wohl doch keine Traumhochzeit. Jedes Augenkontaktopfer gnadenlos zu verfolgen, ist schließlich auch keine Lösung und eventuell sogar strafbar. Was also tun, wenn uns Amors Pfeil unverhofft trifft? Gar nichts! Den Moment verfliegen lassen: Ein Plädoyer für’s Nichtstun und gegen unsere Generationskrankheit, jede Chance krampfhaft nutzen zu wollen.

Überall und Nirgendwo

Eine Sache muss noch klargestellt werden: Liebe auf den ersten Blick existiert nicht. Sie ist ein Gerücht und setzt uns unerfüllbare Fantasien und unnötige Flausen in den Kopf. Da können uns die höchst professionellen Forschungsergebnisse der Apotheken Umschau erzählen, was sie wollen. Die hohen Standards à la Hollywood und ZDF Traumschiff kann das echte Leben einfach nicht erfüllen. Die Realität ist knallhart, denn du findest das Mädchen oder den Typen da drüben höchstens attraktiv… Das ist keine Liebe. Aber halt, ganz so einfach ist es doch nicht. Dieses Gefühl, das wir manchmal haben, wenn wir eine Person sehen, die uns mehr als nur ein bisschen gefällt, ist in keine Kategorie einzuordnen. Es ist mehr als bloße Attraktivität und natürlich weniger als die große Liebe. Es ist etwas dazwischen. Es ist (natürlich) die U-Bahn-Liebe.

Es ist aber nicht nur eine Großstadtkrankheit, von der jeder schon mal betroffen war, der im anonymen Pool öffentlicher Verkehrsmittel schwimmen musste. Aber klar ist, dass den „Öffentlichen“ und besonders den Unterirdischen trotz ihrer Widerlichkeit, seit jeher irgendwie eine gewisse Romantik nachgesagt wird. Die monotone Fahrt, die Musik im Ohr und der Blickkontakt mit schönen Fremden. Der Akt des U-Bahn-Fahrens wird in unserer Fantasie oft bis ins Unendliche hochstilisiert. Ist ja auch klar, mit kaum einem anderen Verkehrsmittel kann sich so ziemlich jeder Großstadtbewohner identifizieren. In der U-Bahn treffen wir uns alle – oder wie Axel Bosse singt: „Wir sind Banker, Schüler, Junkies, Kontrolleure. Wir sind Killer, Bettler, Staatssekretäre. Im Bauch der U-Bahn sind wir alle gleich.“ Und wie recht er hat: Die U-Bahn ist ein muffiger, aber irgendwie idyllischer Schmelztegel.

Eins, Zwei, Drei: Vorbei!

Das kurze Schockverliebtsein beschränkt sich natürlich nicht auf dunkle Bahnhöfe und das Fortbewegungsmittel selbst. Für U-Bahn-Liebe braucht man keine Fahrkarte. Sie kann uns immer und überall treffen: Im Supermarkt, am Tresen und auf dem Gehsteig, im Treppenhaus oder beim Müll wegbringen. So unglaublich ideal ist sie wahrscheinlich bloß in der U-Bahn, da die Entscheidung, ob wir unseren Mund aufmachen oder nicht, uns durch die nächste Haltestelle abgenommen wird. Bevor wir uns überwunden haben, ist der Zug wortwörtlich abgefahren.

Man könnte die ganze Sache jetzt relativ schnell abhaken und das Ganze „Flirten“ nennen, schon klar. Der kleine, aber wichtige Unterschied: Die U-Bahn-Liebe verfolgt keine Ziele. Während beim guten alten Flirten, von wildem Geknutsche bis zu gemeinsamen Enkelkindern, alles drin sein kann, hat die U-Bahn-Liebe nur eines im Sinn: gute Laune, die nächste Station und vielleicht noch ein bisschen Bestätigung. Liebe ist also die Endstation, der kurze Moment der U-Bahn-Liebe nur einer der Bahnhöfe unterwegs.

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Bildquelle: Tuncay über CC BY 2.0