Warum wir aufs Land flüchten

Carmen Thornton, 23 Jahre, studiert was mit Medien, geht gerne feiern und liebt es unter Menschen zu sein. Der klassische Student eben, kein Nerd, kein MoF (Mensch ohne Freunde, für die, die diesen Ausdruck verdrängt haben), nicht irgendwie komisch. Trotzdem hat sie keinen Bock mehr auf das Stadtleben und ist in das kleine 7.700-Einwohner Städtchen Bad Feilnbach gezogen. Alleine, ein selbstständig gefasster Entschluss, einfach aus dem Bauch heraus. Ungläubigkeit und Verwunderung machte sich in mir breit, als ich davon höre. Warum zieht ein hippes junges Mädchen, die Mitten im Leben steht, weg aus der Großstadt in ein Dorf 60 Kilometer außerhalb von München? „Ich liebe einfach die Natur“, erklärt Carmen. Aber das allein ist es nicht. Im Juni schrieb sie die letzten Zeilen ihrer Bachelorarbeit. Dabei spürte sie immer mehr, dass sie eine Veränderung braucht, dass sie die Stadt satt hat. „Ich bin nicht so der Stadtmensch, zu viele Leute auf einem Fleck.“

 

Die Neue Bürgerlichkeit

 

Sind wir eine Neuauflage der Generation Biedermeier? Die Zeit zwischen Wiener Kongress 1815 und dem Beginn der bürgerlichen Revolution 1848, in der sich die Menschen ins Private flüchteten. Ein Lebensstil à la Theodor Fontanes „Irrungen, Wirrungen“, mit den endlosen Spaziergängen von Botho und Lene sowie dem Amüsements der Landpartien.

Schon in den frühen 2000er geisterte der Begriff „Neue Bürgerlichkeit“ durch die Feuilletons der deutschen Medienlandschaft. Ereignisse wie die Terroranschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 führten zum Ende der Spaßgesellschaft der Neunzigerjahre und schafften eine nüchterne und pragmatische Weltsicht, die sich mit Realpolitik beschäftigt. Es ist Trend, sich auf traditionelle Werte und Moralansichten rückzubesinnen. Einher damit geht der Drang nach Natürlichkeit in einer Welt, die immer komplizierter und vernetzter wird.

 

Back to Nature

 

Mich fasziniert immer wieder, wie es banale Dinge wie Feuer, Wasser oder auch die Berge, Dinge, die schon seit Jahrtausenden existieren, immer wieder schaffen, mich in ihren Bann zu ziehen. Stundenlang kann man drauf starren, ohne dass es langweilig wird und lässt dabei – wie man so schön sagt – die Seele baumeln. Die Natur zieht uns seit Urzeiten magisch an. Scheinbar auch Susanne Schneider, Autorin beim SZ-Magazin, die sich in ihrem Artikel „Blaue Magie“ mit der Anziehungskraft des Wassers beschäftigte. Um dieser nachzugehen, kaufte sie sich ein Campingmobil, um wann sie will in die Natur zu fahren und wo sie will aufzuwachen, am besten mit Blick auf einen der Seen im bayerischen Umland – eine schöne Idee.

 

Das Zauberwort heißt Entschleunigung

 

Natürlich muss man sich nicht gleich ein Campingmobile kaufen oder wie Carmen aufs Land ziehen, aber es ist doch schon auffällig, wie unsere Generation das Wandern oder den Ausflug in die Natur feiert. Es ist ein Versuch, dem Hustle des Alltags zu entfliehen. Nicht ständig am Handy hängen und belanglose Nachrichten in die virtuelle Tastatur hämmern, sondern die frische Bergluft atmen. Nicht tausenden Terminen, und sei es auch nur Freizeitstress, hinterher rennen, sondern ein Ziel haben: das Gipfelkreuz erklimmen. Entschleunigung ist das allgegenwärtige Zauberwort und der Schlüssel scheint die Flucht in die Natur zu sein.

Carmen ist in ihrem Leben oft umgezogen. Erst Wien, dann Salzburg, Bad Feilnbach, dann Gymnasium in Vaterstetten, Studium in München. Jetzt will sie eine Konstante, einen Ort, wo sie Wurzeln schlagen kann. „Ich habe oft das Gefühl, dass das Leben schneller ist als ich“, sagt sie. Diese Geschwindigkeit will Carmen nun mit dem Leben auf dem Land drosseln und ihrem ganz eigenen Tempo anpassen, einen Gang zurück schalten: entschleunigen eben. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein selbstbestimmtes Leben führen kann“, jetzt wo sie mit dem Abschluss ihres Studiums im Arbeits- und auch Erwachsenenleben ankommt. Sie kann selber entscheiden, wo sie wohnen und wie sie ihr Leben gestalten möchte.

 

Der Wilde lebt in sich selbst

 

Auch Jean-Jaques Rousseau setzte in der Zeit der Aufklärung auf die Gefühle und Eingebungen der Natur, um die Menschheit zu verbessern: „Der Wilde lebt in sich selbst. Der vergesellschaftete Mensch stets außerhalb seiner selbst.“ Die Natur bringe also das Ursprüngliche, Echte und auch Unschuldige in uns heraus, während das Leben in unserer Kultur dazu neige, uns zu verfälschen.

Die Natur wird zum Sinnbild von Sehnsucht und Träumereien. Ein bisschen verklärt und romantisiert, klar, aber trotzdem zeigt sie ihre Wirkung. Nach einem Wochenendausflug in die Berge sind wir entspannter, haben das Gefühl, die Ruhe und Natürlichkeit voll in uns aufzusaugen, bevor es zurück in den Großstadtdschungel geht. Und so ein Ausflug passt auch eher in unser Selbstbild, als ein Ballermann-Urlaub. Wir, die Wert auf Bio, auf gute Bildung, auf hochwertige und spitzfindige Unterhaltung, auf die neue Lieblingsserie, die auch künstlerisch unseren Ansprüchen genügen muss, legen. Also ziehen wir los mit dem Wanderrucksack bepackt in die große weite Welt auf der Suche nach uns selbst, unserer Ursprünglichkeit.

Carmen reicht das nicht aus. Sie hat sich entschieden erst mal in Bad Feilnbach, den Ort, an dem sie sich von all den Stationen in ihrem Leben am meisten zu Hause gefühlt hat, zu bleiben. Wie lange, das weiß sie noch nicht, aber sie sei glücklich. Sie habe gemerkt, wie sie mit dem Projekt „Aufs Land ziehen“ wahnsinnig gewachsen sei, indem sie sich alles selbst organisiert habe. Eins steht für Carmen fest: „Jetzt, da ich hier bin, will ich nicht mehr so schnell weg.“

 

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Bildquelle:
(1) Ingo Ronner unter CC-BY-SA 2.0