Deine Stadt, dein Dorf

Von Melanie Wolfmeier

Es ist schon ein seltsames Phänomen. Kaum sind wir der Schule entschlüpft, geht es nur noch darum, in der Welt einen eigenen Platz zu finden. Wer aus dem Dorf kommt (so wie ich) möchte raus aus dieser stinkfaden Alltagstristesse, die einem tagtäglich durch die Scheibe des Autos entgegen schlägt. Weit weg. Weit, weit weg. Von all dem Getratsche, den kleinen, immer gleichen Dorfläden. Dem veralteten Kinderzimmer und Bauerndiskos. Mehr Freiheit, mehr Individualität, mehr Abenteuer – eine große Stadt scheint für all diese Gefühle eine Nische zu haben.

Und man versucht, mit seinem Umzug seine Provinzkindheit hinter sich zu lassen. Langsam entfernt man Wurzel für Wurzel, ändert die Klamotten, den Style, die Sprechweise. Dass aber genau bei so einer 180-Grad-Drehung das Zugehörigkeitsgefühl verloren gehen kann, ist ein großes Problem. Und plötzlich schmeckt das frisch gekochte Abendessen in der kleiderschrankgroßen Einzimmerwohnung nur noch nach Einsamkeit, die einem letztendlich Heimweh nach dem Dorfleben beschert.

„Zusammen ist man weniger allein“

Einsamkeit in Städten gleicht einer Krankheit, gegen die es kein Heilmittel gibt. Nicht nur alte Menschen, die keine Familie mehr haben, leiden unter ihr. Auch junge Menschen haben oft kein genügend ausgeprägtes Sozialleben, das sie auffangen könnte. Das Leben in einer WG bedeutet nicht unbedingt, dort mit Freunden fürs Leben zusammen zu wohnen. Manche Studentenwohnheime sind wie Bienenwaben, gefüllt mit unterschiedlichen Schwärmen – solange man sich nicht in die Quere kommt, passt alles. Aber wirkliches Zusammenleben ist das auch nicht. „Einsamkeit“, zitiert Spiegel Online eine Mitarbeiterin von Nightline, einer Hotline für junge Menschen, „ist der Klassiker unter den Themen der Studenten.“

Die Vorteile, die wir in einer Stadt finden, sind nicht zu übersehen. Das kulturelle Angebot übersteigt bei weitem die Möglichkeit, es angemessen wahrzunehmen. Auch verdienen wir besser und können uns wegen der zuvor angekreideten Anonymität freier bewegen. Trotzdem – die Nachteile sind nicht ohne. Andreas Meyer-Lindenberg beschreibt in seinem Artikel für Spiegel Online, dass der vermehrte Stress, den Stadtbewohner jeden Tag ertragen, Depressionen, Angstzustände und Schizophrenie begünstigt – und zwar deutlich öfter als es auf dem Land der Fall ist. Weiter meint der Psychologe: „Nicht zu vernachlässigen ist auch die soziale Fragmentierung, also der Verlust direkter familiärer Bezugspersonen.“ Das Ablegen der gewohnten Umgebung, der Familientraditionen und des Freundeskreises stellt für viele eine schwer zu verkraftende Veränderung dar.

Landliebe – oder doch Stadtkind?

Auf studis-online.de stößt Janey89 mit folgendem Beitrag eine längere Diskussion an: „Früher habe ich die Anonymität der Großstadt sehr genossen, man kann tun und lassen was man will, das ist nicht so wie in einer Kleinstadt, wo jeder jeden kennt. Aber inzwischen frage ich mich, ob es nicht auf Dauer sinnvoller ist, in einer Kleinstadt zu leben? Ich habe das Gefühl, keiner will sich hier so richtig festlegen (…) Aber kann man Einsamkeit an der Größe einer Stadt festmachen?“ Die Antworten klappern sämtliche Pros und Kontras ab, die es zu diesem Thema gibt. Der Zusammenhalt sei in kleinen Ortschaften intensiver, hingegen könne man in Städten besser seinen Horizont erweitern, meint ExKleinstädter. Und Tom81 schreibt: „Nicht die Stadt, sondern der entsprechende Charakter fördert die Einsamkeit.“

Tatsächlich ist es so, dass Einsamkeit viel mit Einstellung zu tun hat. Jemand, der sich bewusst abkapselt, wird auch keinen Anschluss finden. Aber genauso kann es passieren, dass man einfach niemandem begegnet, der auf derselben Wellenlänge funkt. So schön es auch ist, in die große weite Welt hinauszustreunen und sich ein neues Leben aufzubauen, so schwierig kann es manchmal auch sein, einen kompletten Neustart hinzulegen. Als ich vor knapp drei Monaten nach München gezogen bin, ging es mir ähnlich. Eine riesige Menschenmenge mit mir als neuestes Mitglied – in der Anfangsphase habe ich oft meine Entscheidung verflucht und mich nach dem alten Zuhause gesehnt. Nach der Einfachheit, der Engstirnigkeit. Nach den vertrauten Gesprächen, den altbekannten Mustern und der einen Straße, die sich durch unser Kaff zieht.

„Derfs no wos sei?“

Und dann, plötzlich, bin ich in diesen Laden gestolpert. Durch eine unscheinbare Glastür hindurch betritt man eine andere Welt. Die mütterliche Wärme schlägt einem entgegen, sobald man über die Schwelle tritt. „Servus“, lautete die Begrüßung und während die anderen Gäste mit der Verkäuferin weiterplauderten, stand ich etwas überfordert vor dem übervollen Angebot an belegten Sandwiches und dampfendem Mittagsmenüs.

Genauso ein Laden ist nämlich die Metzgerei um die Ecke von unserer Redaktion. Ein Stück Dorftratsch, ein Stück Geborgenheit. Ein Stück Heimat. Bayerisch flirrt durch die Luft, eine kleine Verkäuferin mit roten Wangen steht hinter dem Tresen – und auf einmal scheint die graue Stadt gar nicht mehr so unvertraut zu sein. Weil sich in diesem Moment zeigt, dass auch in jeder Stadt ein bisschen Dorf zu finden ist. Und das bedeutet: ein bisschen Heimat. Ein bisschen weniger Einsamkeit. Und dass jeder Ort zu deiner Heimat werden kann, wenn du nur deine Wurzeln nicht ganz vergisst.

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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz