Wir müssen lernen, "Nein" zu sagen

Stress: Die Kunst des „Nein“-Sagens

„Es ist Herbst.“ R. lächelt. Während Menschen eingepackt in regenfesten Jacken an der Parkbank vorbeihetzen, fügt sie hinzu: „Endlich.“ Endlich sei der Sommer vorbei. Nun sei die Zeit da, in der man ohne schlechtes Gewissen den Nachmittag vorm Fernseher verbringen dürfe. Einfach nichts tun, das sei genau das, was ihr so lange gefehlt habe.

„Nein“ sagen fiel R. noch nie leicht. Die letzten Monate waren hart. Tag für Tag quälte sie sich durch ihre Unterlagen, das Staatsexamen stand kurz vor der Tür. Die ersten Wochen ging es gut, erzählt sie. Doch dann habe sie gefühlt, wie ihr plötzlich alles zu viel wurde: „Meine Beziehung, meine Freunde und die Besuche bei der Familie.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich wusste nicht mehr, wie ich alles unter einen Hut bringen sollte.“ Ihren Nebenjob habe sie nicht kündigen wollen, erklärt sie. Sie sei auf das Geld angewiesen gewesen und außerdem habe die Arbeit einen notwendigen Kontrast zu ihrem Lernalltag gebildet. Doch weil sie niemanden enttäuschen wollte, traute sie sich nicht, Verabredungen abzusagen. Ein „Nein“ war für sie inakzeptabel. Es nicht zu schaffen, war für R. undenkbar.

Von Stress zu Depressionen

Zuzugeben, nicht mehr zu können, ausgelaugt und überfordert zu sein, ist nicht einfach. Ein stressfreies Leben zu führen, ist völlig unmöglich. Aber Abstriche zu machen, wenn einem vor lauter Stress die Haare ausfallen und man bei der kleinsten Kleinigkeit in Tränen ausbricht, dürfte doch eine annehmbare Lösung sein.

Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe leiden circa vier Millionen Menschen in Deutschland an Depressionen. Nicht jede Phase, in der wir lieber die Rollläden herunterlassen und den Tag im Bett verbringen, muss ein Hinweis auf eine depressive Störung sein. Zu viel Stress zeigt sich laut den Psychologen Willi Neumann und Gabriele Claßen darin, dass wir dauernd angespannt, nervös, unkonzentriert und gereizt sind. Wenn wir uns zu lange im gestressten Zustand befinden, weitet sich unser Unwohlsein auf Gefühle der Hilflosigkeit und der Erschöpfung aus, wir ziehen uns zurück, bekommen Haltungsschäden, Migräne, Kreislaufstörungen. Und irgendwann, wenn sich das Aufstehen anfühlt, als müssten wir uns aus einem Sumpf herausziehen, ist das mehr als eine bloße, vorübergehende Antriebslosigkeit. „Alles erfolgt wie gegen einen bleiernen Widerstand“, ist auf der Seite der Stiftung Deutsche Depressionshilfe zu lesen, „die Betroffenen sind oft nicht in der Lage, kleinste Entscheidungen zu treffen, haben die Fähigkeit verloren, Freude zu empfinden. Es bestehen Konzentrationsstörungen, Schuld- und Minderwer­tigkeitsgefühle, meist auch eine alles begleitende Angst und Beklemmung.“

In ein tiefes Loch zu schlittern, rührt oft von negativen Lebenserfahrungen und übermäßigem Stress her. In dem Liebesbrief an ihren Vater schreibt Zeit-Autorin Vera Brückner über ihre Selbstverwirklichungsversuche und wie sie dabei ist, an deren Umsetzung zu zerbrechen. In ihrem Erststudium habe sie sich in zu viele Projekte gestürzt, nun schafft sie es auch nach zehn Stunden Schlaf nicht aufzustehen. Zwischen den Zeilen ist zu lesen: zu viel Stress, zu viel Druck, die Ungewissheit, was die eigene Zukunft betrifft und die Angst vorm Versagen. Vielleicht hat sie den Zeitpunkt verpasst, an dem es notwendig gewesen wäre, Druck abzubauen, anstatt sich weiter anzutreiben.

Das Ablaufdatum von Bekanntschaften

Seit zwei Monaten ist M. nun in Island. Kurz vor ihrem Abflug war es so weit: Der Schlusssatz der Masterarbeit war getippt und endlich im Höllenschlund des zuständigen Sekretariats verschwunden. Auf die Frage, wie es ihr während des Schreibens ergangen sei, zuckt sie nur mit den Schultern. „Schön war’s nicht“, gibt sie zu. „Aber ich habe mir ein Zeitlimit gesetzt. Bis Ende Juli wollte ich es geschafft haben. Also hielt ich durch – ich wusste ja, dass es absehbar war.“ Aufs Feiern hätte sie trotzdem nicht verzichten wollen: „Ich brauchte das, sonst wäre ich durchgedreht.“

Der Freiburger Psychologieprofessor Markus Heinrichs entdeckte bei einem seiner Experimente, dass Menschen in schwierigen Situationen stressresistenter sind, wenn sie einen Freund an ihrer Seite wissen. Die Teilnehmer des Experiments mussten eine Präsentation halten und anschließend Kopfrechenaufgaben lösen. Bei den Probanden, die einen Freund mitbringen durften, wurde im Speichel eine niedrigere Konzentration des Stresshormons Cortisol gemessen. Den Aussagen nach empfanden sie auch weniger Angst und Stress als die Teilnehmer, die allein erschienen waren. Heinrichs bringt seine Ergebnisse auf den Punkt, wenn er sagt: „Zehn Minuten an meiner Seite, schützt ein Freund mich über eine Stunde lang wirksam vor Stress.“

Verbindungen zwischen Menschen entstehen durch gemeinsam Erlebtes, durch Gespräche und durch den Eindruck, von dem anderen so akzeptiert zu werden, wie man eben ist. Vor allem Gefühle sind hier der Sekundenkleber, der uns mit Anderen zusammenschweißt. Dass Frauen mehr emotionale Nähe benötigen, fand die US-amerikanische Soziologin Diane Felmlee 2012 durch eine Studie heraus. Männern hingegen sei es wichtiger, einfach Spaß zu haben. Je mehr sich zwei Freunde an die jeweiligen Regeln halten, desto stabiler ist laut den Ergebnissen der Studie die Freundschaft. Wenn sich einer der beiden plötzlich zurück zieht und nicht mehr so viel Zeit übrig hat wie gewöhnlich – sei es wegen einer stressigen Situation oder einer neuen Beziehung – überleben das nur Freundschaften, die wirklich gefestigt sind. So war es auch bei M. der Fall. Gemeldet habe sie sich während der Abschlussphase ihres Studiums nur noch bei den Freunden, die ihr am nächsten standen. Für andere Bekanntschaften habe sie schlichtweg keine Nerven gehabt. „Ich musste Abstriche machen“, gesteht sie. Manche Freunde haben das besser verkraftet, bei anderen wiederum sei die Freundschaft in die Brüche gegangen. „Aber das ist okay“, sagt sie. Ihr sei es wichtiger gewesen, diese Zeit unbeschadet durchzustehen.

Die Sache mit der Aufmerksamkeit

Unser Selbstbild ist den Psychologen Neumann und Claßen zufolge der Schlüssel zu unserem Wohlbefinden. Wir können es beeinflussen, indem wir mehr darauf acht geben, was uns gut tut und was nicht. Unsere Wahrnehmung und die damit verbundenen Gefühle haben großen Einfluss darauf, ob wir unsere derzeitige Lebenssituation als negativ stressig empfinden. Oft stehen uns nur die Erwartungen an uns selbst im Weg, übermäßigen Druck abzubauen. Es hilft, das eigene Verhalten zu reflektieren und zu akzeptieren, wenn uns etwas zu viel wird. Unsere inneren Kraft- und Energiequellen sind nun mal begrenzt. Anstatt uns einen unmöglich zu meisternden Berg an Arbeit zu schaffen und viel zu hohe Ziele zu setzen, sollten wir uns auf das konzentrieren, was uns wirklich wichtig ist. Und zu dem, was uns zusätzlich belastet, „Nein“ zu sagen.

R. muss los. Gleich fängt ihre Theaterprobe an, in ein paar Wochen ist Premiere. Ob sie sich nicht gleich wieder eine zu stressige Situation aufhalse? Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe mit Achtsamkeitsmeditation angefangen“, erklärt sie. Mindfulness-Based Stress Reduction (kurz: MBSR) nennt man das Programm, bei dem man in 8 bis 10 Wochen lernt, durch Reflektion im Alltag effektiver mit Stress umzugehen. Studien belegen den Erfolg dieses Konzepts, durch das man mehr Gelassenheit und Selbstkontrolle aufbaut. „Manche halten das für total bescheuert. Aber das ist mir egal“, fügt R. hinzu. „Ich bekomme dadurch Energie und meine positive Lebenseinstellung zurück. Und ich lerne auch, etwas abzulehnen, wenn ich weiß, dass es außerhalb dessen liegt, was ich schaffen kann und will.“ Und das schlechte Gefühl? Das bleibe dabei aus, sagt sie.

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Bildquelle: Alex unter CC BY 2.0