Krise und Krieg: Die Generation Y in der Ukraine

Von Iseult Grandjean

Am Ende sind die Tage eigentlich egal, verschwimmen im nihilistischen Strom einer zerrissenen Nation. Man kann auch gar nicht genau sagen, welches Datum wirklich von zentraler Bedeutung ist – es gibt zu viele. Die Konflikte begannen schon im Dezember des letzten Jahres. Doch der 18. Februar 2014 ist der Tag, an dem die Proteste auf dem Maidan-Platz eskalierten. Der Tag, an dem die Gewalt endgültig in die Ukraine Einzug hielt. Über 300 Tage ist das jetzt her, und noch ist kein stabiles Ende in Sicht, trotz Waffenruhe. 

 

Den selbstvergessenen Horizont ein Stück gen Osten aufmachen

 

Und während man selbst also an seinem Schreibtisch sitzt, sich ein paar so panische wie triviale Zukunftsgedanken macht und sein bewegtes Jahr vor dem inneren Auge Revue passieren lässt, kann es doch mal passieren, dass man kurz stockt, als hätte der Film auf der psychologischen DVD einen Kratzer, und seinen persönlichen Jahresrückblick auf internationaler Ebene ausweitet, den selbstvergessenen Horizont nur ein kleines Stückchen aufmacht. Wie geht es eigentlich jungen Menschen, Leuten meiner Generation, in der Ukraine? Wie sehen sie in die Zukunft? Haben sie überhaupt eine?

Für ZEITjUNG sprach ich mit Oksana Andrusyak, einer jungen Aktivistin aus der Ukraine. Als der Konflikt sich entzündete, wohnte sie noch in Kiew, dem Brennpunkt der Proteste. Sie ging sonntags auf Demos, verbreitete Nachrichten und Ankündigungen in sozialen Netzwerken und half dabei, diejenigen mit Essen zu versorgen, die Tag und Nacht auf dem Maidan ausharrten. Als Mitglied der NGO „European Youth Parliament – Ukraine“ hat sie selbst zwar eine mehr unterstützend-pädagogische als integral-aktive Funktion in der politischen Gesellschaft, trotzdem entschied sie sich letztes Jahr kurz nach ihrer Hochzeit, mit ihrer Familie nach Ivano-Frankivsk, ihren Heimatort im Westen des Landes zurückzukehren. „Es fühlte sich einfach sicherer an, wieder dorthin zu ziehen“, erzählt sie.

 

Von Krise bis Krieg: Zukunftsängste jenseits der Bachelorarbeit

 

Es sind 300 Tage, in denen wir viel gehört haben – von Krise bis Krieg. Auch in der Ukraine, vor allem in der Ukraine. Aber das ist auch ein Jahr, in dem wir selber unser Leben lebten und zwischenzeitlich, wenn es medial mal wieder still wurde um den Maidan, vielleicht sogar vergessen haben, dass es irgendwo, außerhalb unserer westlichen Blase, Zukunftsängste jenseits der Bachelorarbeit geben könnte.

„Während dieses Jahres wurde einer meiner Kollegen aus der Arbeit getötet, ein ehemaliger Mitschüler verwundet, viele Freundesfreunde haben in irgendeiner Art gelitten“, erzählt Oksana. Richtige Resignation habe sich noch nicht eingeschlichen, aber eine gewisse Abgeklärtheit gegenüber dem Grauen ist deutlich spürbar. „Wir haben uns allmählich an die Nachrichten von Mord, Attacken und Geiselnahmen gewöhnt. Jeder hat irgendein psychologisches Trauma durchgemacht.“

Und doch weiß auch die Generation Y in der Ukraine, dass sie weiterkämpfen und für ihre Rechte einstehen muss, wenn sie in eine andere Zukunft blicken will. „Ich würde nicht sagen, dass die Leute enttäuscht wurden – sie hatten gar nicht erwartet, dass die Korruption, die Verbrechen und das alte System so schnell verschwinden. Die Euphorie der Orangen Revolution 2004 hat die Menschen glauben lassen, dass Veränderung kommen wird“, sagt Oksana. „Dieses Mal ist es eben nicht so gekommen – dieses Mal wissen die Menschen, dass Veränderungen nur kommen, wenn wir sie bringen. Dass sie nur kommen, wenn wir selbst diese Veränderungen sind.“

 

„Ich vertraue keinem Medium“

 

Mediale Berichterstattung erfolgt meist in Wellen. Wellen, die sich anfangs überschlagen und übereinander brechen. Irgendwann rollt die aufgepeitschte Sensationslust aus. Wie können wir überhaupt wissen, ob das, was wir in der Zeitung oder auf Spiegel Online lesen, die Lage im Land präzise spiegelt oder doch nur eine Sichtweise darstellt, für die wir eigentlich kaum eine andere Wahl haben, als ihr zu folgen? Ich frage Oksana. „Das ist eine komplizierte Frage“, ist ihre erste Reaktion. Diese Verunsicherung selbst von Seiten direkt am Geschehen Beteiligter ist fast schon Teil der Antwort. „Ein Medium zeigt diese Perspektive, ein anderes erfindet Geschichten, wieder ein anderes informiert überhaupt nicht. Man sollte glauben, dass man mit all der Technologie und den neuen Medien in der Lage wäre, zu wissen, was abgeht.“ Oksana zweifelt am System: „Die Medien missbrauchen aus meiner Sicht ihre Macht.“

Denn selbst in der Ukraine ist es mittlerweile schwierig, den Überblick über richtig und falsch, über objektiv und propagandistisch zu behalten, wie sie mir berichtet: „Versuch mal, ukrainische TV-Kanäle zu schauen – nach 20 Minuten wirst du wissen, wer dahintersteckt. Derzeit schaue ich Hromadkse TV, einen unabhängigen Nachrichtensender und online Ukrlife TV  –  das gibt es nur im Internet, und viele Leute, die dort als Gäste sprechen, werden nie von politisch unterstützten Sendern eingeladen. Ich vertraue keinem Medium vollständig und bevorzuge es, Informationen von wenigen Quellen zu beziehen und diese dann zu analysieren.“

 

Ein bestimmter Blickwinkel mal eine persönliche Geschichte

 

Nachdem es einige Zeit still war in den Medien, erreichen uns in den letzten Tagen immer wieder Nachrichten aus allen Ecken, die Tatsachen aufzeigen, Meinungen offenlegen. Immer mehr Experten sehen in Putin einen aktiven Aggressor und stellen sich damit gegen die 64 Prominenten, unter ihnen auch Altkanzler und „Putin Buddy“ Gerhard Schröder, die in einem offenen Brief zum Frieden in Europa aufriefen und abrieten, Russland zu dämonisieren.

Fragen wir Menschen vor Ort, junge Frauen und Männer wie Du und Ich, erkennen wir unsere tiefgreifenden Zweifel wieder: „Ich finde nicht, dass irgendein Medium die Situation in der Ukraine in angemessener Weise darstellt – all die Nachrichten und Storys sind subjektiv und bedienen bestimmte politische Interessen“, erzählt Oksana. „Es gibt ein paar Journalisten, die versuchen, uns über Fakten zu informieren, aber selbst für sie ist es sehr schwer, nicht von ihren eigenen Eindrücken und Überzeugungen beeinflusst zu werden.“ Am Ende ist wahrscheinlich jeder Artikel das Produkt eines bestimmten Blickwinkels und einer persönlichen Erfahrung. Dies ist die Geschichte von Oksana.

 

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Bildnachweis: Joshua Earle unter cc0 1.0