Allein, aber nicht einsam

Schopenhauer, die alte Stimmungskanone, hat mal gesagt, dass man in der Welt nicht viel mehr habe als die Wahl zwischen Einsamkeit und Gemeinheit. Und wer zu Versuchszwecken durch die Comments unter den Posts von SPIEGEL ONLINE scrollt, kann diesen Denkansatz durchaus nachvollziehen – immerhin tummeln sich im Internet eine ganze Menge schlechtgelaunter Lappen, die mit Hasskommentaren gegen ihre Einsamkeit ankämpfen. Ein stummer Schrei nach Gemeinschaft, sozusagen. Lieber hassen und dafür Likes bekommen als allein und dabei traurig sein.

Diejenigen unter uns, die ihre Einsamkeit nicht mit schlecht artikulierten Hassparolen kompensieren müssen, fühlen sie trotzdem ab und zu. Samstagabends, zum Beispiel. Alle ham ’nen Job, du hast Langeweile. Keiner will ins Theater, niemand ins Kino, und auf Club hat sowieso niemand Bock. Der neue Fitzek ist eher semi-spannend, die letzte Staffel How To Get Away With Murder auch schon durchgeguckt. Niemand da, der mit einem spricht. Nicht mal bei WhatsApp meldet sich jemand. In deinem Kopf läuft die einzige Strophe von Kein Schwein ruft mich an, die du kennst, in Dauerschleife. Alleine sein, das können wir schon fast nicht mehr. Es ist normal geworden, dass wir im Fünfminutentakt auf das Smartphone gucken, weil eigentlich ständig jemand schreibt. Umso schneller fühlen wir uns einsam, wenn auf einmal niemand mehr etwas von einem will.

Zum Glück allein

Gibt man „synonym einsamkeit“ in Google ein, spuckt die Suchmaschine Wörter wie Isolation, Ödnis, Leere, Menschenverachtung und Verlassenheit aus. Schopenhauer hätte bei solch einem heiteren Wortfeld wohl vor Freude in die Hände geklatscht. Einsamkeit kann tödlich sein. Sie ist so gesundheitsschädlich wie regelmäßiger Zigarettenkonsum oder Fettleibigkeit. Sogar in der Bibel wird gewarnt: „Wehe dem, der alleine ist; wenn er fällt, so ist kein anderer da, der ihm aufhelfe.“ Und: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Ja, aber warum denn nicht? Warum ist die Einsamkeit bloß so verschrien?

Früher war das anders.  „Einsamkeit wurde ursprünglich nicht ausschließlich mit einem bedrückendem Zustand in Verbindung gebracht“, erklärt Martin Hecht in der aktuellen Ausgabe von Psychologie Heute. „Kulturgeschichtlich gerät die Einsamkeit erst mit dem Beginn der Moderne unter Generalverdacht, und zwar in dem Maß, in dem die Bande der traditionellen Gesellschaft zerreißen und den Menschen in Vereinzelung zurücklassen.“ Traditionelle Gesellschaft, das heißt vor allem: Mehrgenerationenhaushalte und Ehe auf Lebenszeit. Modelle, die heute kaum noch Bestand haben. Stattdessen steigt die Zahl der Menschen, die allein leben, stetig an – mehr als ein Drittel der Haushalte in Deutschland sind Singlehaushalte. Das erklärt, wie die Angst vor der Einsamkeit zum ständigen Begleiter werden kann.

Mehr Selbstwahrnehmung durch Reizreduktion

Dabei bietet sie Möglichkeiten, die man in Gesellschaft nie erhalten würde: Einsamkeit senkt nämlich die Reizschwelle. Das bedeutet, dass wir unsere Umwelt viel intensiver wahrnehmen, wenn wir alleine sind. „Was man überhörte, hört man nun, was man nie gefühlt hat, fühlt man, woran man achtlos vorüberging, daran bleibt man nun hängen“, schreibt Hecht. Dass das zeitweilige Alleinsein eine entspannende Wirkung hat, lässt sich sogar nachweisen: besonders Stress– oder Burnoutpatienten profitieren von der sogenannten „sensorischen Deprivation“, also der drastischen Reduzierung von Außenreizen. Und die kann nunmal nur zustande kommen, wenn man alleine ist. Dann erhöht sich auch die Selbstwahrnehmung – man spürt sich selbst wieder. Das kann sowohl gruselig als auch befreiend wirken. „Wenn nicht mehr so viele Reize von außen auf uns einstürmen und unsere Aufmerksamkeit beanspruchen, dann werden wir automatisch achtsamer gegenüber unserem Körper“, sagt Ulrich Ott, Psychologe an der Universität Gießen. „Weil die Schwelle sinkt, um ins Bewusstsein zu treten, spüren wir dann auch Empfindungen, die sonst in der Hektik des Alltags untergehen. Bei längerem Rückzug treten durch sensorische Deprivation vermehrt auch intensive innere Bilder auf – in Form von Visionen und alten Erinnerungen. Das kann unangenehm sein, aber meist mit einem kathartischen Effekt.“

Allein ist auch genug

Ein Effekt, der ausbleibt, wenn wir weiterhin alle paar Minuten unseren Facebook-Newsfeed checken. „Das Internetzeitalter hat die Allzeitverbundenheit zum Ideal erhoben, neue Kommunikationsmedien drängen uns so eng zusammen wie nie zuvor. Aber unsere Zeit heiligt nicht nur eine neue Nähe, sondern ächtet zugleich den, der sich ihr entzieht“, so Hecht. „Ihr Credo lautet: Wir sind nur glückliche Menschen, wenn wir verbunden sind, wir sind nur glücklich, wenn wir uns als soziale Wesen spüren – und zwar so oft wie möglich. Wer sich zur Einsamkeit bekennt, wird als unvollkommen betrachtet, als Hinterwäldler, als Versager.“

Generell braucht der Mensch zwar soziale Interaktionen, da sind sich Wissenschaftler einig – und gegen regelmäßige Unternehmungen mit Freunden spricht selbstverständlich gar nichts. Allerdings werden die Freuden der Gemeinsamkeit auch überschätzt. Oder, wie Oscar Wilde es spitzzüngig formuliert: „Wenn du Einsamkeit nicht ertragen kannst, dann langweilst du vielleicht auch andere.“ Viele Situationen erleben wir ausschließlich in Gemeinschaft anderer. Wer traut sich denn zum Beispiel, ohne Begleitung ins Kino zu gehen? Oder mutterseelenallein im Café zu sitzen? Eine aktuelle Studie aus den USA kommt zu dem Schluss, dass wir auf solche Soloausflüge verzichten, weil wir fürchten, von anderen negativ bewertet zu werden: Was, der Typ geht alleine ins Restaurant? Der muss ja ein Loser sein! Dabei ist das völliger Schwachsinn: die Allermeisten sind viel zu sehr mit sich selbst oder ihrem Smartphone beschäftigt, als dass sie andere überhaupt wahrnehmen könnten. Wir fürchten den sogenannten spotlight effect: man nimmt sich selbst am wichtigsten und denkt deshalb, dass das die anderen auch tun.

Alles, nur nicht einsam

Die Autoren der Studie schlussfolgern: wir überschätzen, wie viel mehr Freude wir mit einer bekannten Person an der Seite hätten und verzichten daher leichtfertig auf Erfahrungen, die unser Leben bereichern könnten. Beispiel Reisen: wie viele Urlaube hast du schon verpasst, nur weil sich dafür nicht der richtige Reisepartner gefunden hat? Auf wievielen Vernissagen, Theaterpremieren, Bad-Taste-Partys bist du nicht gewesen, weil deine Begleitung dann doch keine Lust mehr hatte? Vielleicht ist es ja an der Zeit, nur mal mit dir selbst auszugehen. Vor einigen Jahren hat der Sozialpsychologe Eric Julian Manalastas dazu ein Experiment gestartet: er verordnete den Teilnehmern eine mindestens dreistündige Verabredung mit sich selbst. Egal, was sie unternahmen – sie durften dabei nichts tun, was bei „normalen“ Dates sonst verpönt ist, etwa ein Buch lesen oder ständig auf das Handy schauen. Später stellte sich heraus, dass die Teilnehmer durch diese Erfahrung das Alleinsein in der Zukunft positiver betrachteten.

Beim nächsten einsamen Samstagabend lohnt es sich daher vielleicht, daran zu denken: du bist nicht allein, du hast ja dich.

Bildquelle: Joshua Earle unter CC0 1.0