Amoklauf in München: Hass allein bringt uns nicht weiter
Er war offenbar ein Einzelgänger. Einer, der sich jahrelang in seinem Zimmer verbarrikadierte. Einer, der in der Schule gehänselt wurde und in seiner Freizeit Ballerspiele wie „Counter Strike“ spielte. All das sind Informationen, die rund um den Amokläufer von München bislang an die Öffentlichkeit drangen.
Am Münchner Olympia-Einkaufszentrum tötete der 18-Jährige David Ali S. neun Menschen und dann sich selbst. Er verwendete dafür eine Glock 17, eine für Amokläufer typische Waffe. Drei der vielen jungen Opfer stammten aus dem Kosovo, drei weitere Todesopfer sind deutsch-türkischer Herkunft und auch jeweils ein Opfer mit griechischen und ungarischen Wurzeln ist unter den Verstorbenen. Ob der Amokläufer gezielt auf Jugendliche mit Migrationshintergrund schoss, ist noch unbekannt.
Das bedrückende Gefühl angesichts der grausamen Tat sitzt so oder so tief. Niemand in seinem näheren Umfeld hat sie ernsthaft kommen sehen, obwohl David Ali S. das Verbrechen offensichtlich monatelang vorbereitet hatte. Bereits vor einem Jahr war er nach Winnenden gefahren, hatte auf den Spuren eines seiner größten Idole gewandelt. Sieben Jahre ist es nun her, dass Tim K. aus dem schwäbischen Winnenden an seiner ehemaligen Schule 15 Menschen tötete und anschließend seinem eigenen Leben ein Ende setzte.
David machte Fotos von den damaligen Tatorten, speicherte die Geschehnisse ab – und bereitete sich seitdem geradezu akribisch auf seinen eigenen, großen „Auftritt“ vor. Auch mit dem Breivik-Attentat hatte sich der 18-jährige Deutsch-Iraner offensichtlich intensiv auseinandergesetzt – es kann kein Zufall sein, dass er den Amoklauf an dem Tag stattfinden ließ, an dem sich der Anschlag des Norwegers zum fünften Mal jährte, meint auch die Münchner Polizei.
Er wollte unsterblich sein und bleibt der erbärmlich Gescheiterte
Ja, er wollte ein auf ewig unvergessener Held sein, das, was Tim K. und Anders Behring Breivik für ihn offensichtlich schon lange verkörperten. Er wollte sich endlich rächen, an dieser Gesellschaft, von der er sich sein Leben lang unverstanden und zurückgewiesen fühlte. Am Ende seines Lebens wollte endlich er derjenige sein, der die Panik in den Augen der anderen sieht und sich überlegen fühlt.
Von diesem Gedanken schien er wie besessen zu sein – genau wie jene, die er verehrte, weil sie ihm gezeigt hatten, wie es ging. In dem Buch „Amok im Kopf – Warum Schüler töten“ von Peter Langman hatte er vieles über das Thema lesen können, was ihn am Brennendsten interessierte: Das Buch wurde in seinem Zimmer aufgefunden und er verwendete das Werk, das verfasst wurde, um Eltern mögliche Anzeichen aufzuzeigen, offensichtlich als Anleitung für seine eigene Tat.
In dem Buch sind Fälle von vergangenen Amokläufen häufig detailliert beschrieben: Der Fall von Dylan Klebold zum Beispiel, der gemeinsam mit seinem Verbündeten Eric Harris 1999 an der Columbine High School Amok lief und dabei 12 Schüler und einen Lehrer tötete. Anschließend begingen sie beide Suizid. Dylan Klebold hatte vor Begehen seiner Tat eine Geschichte geschrieben, die von einem Massenmörder handelte und mit folgenden Worten endete: „So wie dieser Mann muss Gott sich fühlen. In seinem Gesicht sah ich Macht, Selbstzufriedenheit, Verschlossenheit und Göttlichkeit, und all das strahlte auch von ihm aus. Der Mann lächelte, und in diesem Augenblick, ganz von selbst, verstand ich ihn.“
Mitleid für einen Attentäter, der eigentlich ein Opfer ist
Mag sein, dass David S. glaubte, er würde sich am Ende ebenfalls wie ein Gott fühlen. Aber egal, wie viel Schmerz und Leid er seinen Opfern, den Trauernden, München und dem ganzen Land auch zugefügt haben mag: Er wird niemals der sein, der er unbedingt hatte sein wollen – der „coole Rächer“, der andere mitreißt in den für ihn so spektakulären Märtyrertod. Vielmehr war der junge Mann, der mit einem leichten Hinken aus dem McDonalds trat und auf Wehrlose schoss, die erbärmlichste Figur des Abends.
Hier soll nichts heruntergespielt oder verharmlost werden. Natürlich waren die Folgen seiner Tat grausam. Trotzdem ist es legitim, neben all der Wut und all der Trauer für diesen Täter auch Mitleid zu empfinden. Das mag den einen oder anderen überraschen, die meisten wahrscheinlich sogar verärgern. Ist es wirklich angebracht, Mitleid für einen Attentäter zu empfinden? Sollten nicht Empfindungen wie Hass, Entsetzen, vielleicht auch Angst unsere Gefühlswelt dominieren? Das wäre natürlich und menschlich. Und trotzdem gibt es einen guten Grund, warum wir uns gegen die angsterfüllten Gedanken wehren sollten – es sind nämlich genau jene Gefühle, die der Täter in uns hervorrufen wollte.
Ohnmächtige Wut wird zu Verzweiflung
David S. erlag einer psychischen Störung, die ihn zu jenem unvorstellbaren Handeln antrieb. Es wurde bestätigt, dass er an Depressionen litt und deshalb zwei Monate lang in Behandlung war. Außerdem litt er an einer „sozialen Phobie“, teilte der Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch mit. Menschen hätten ihm Angst gemacht, in der Schule wurde er gemobbt und so zog er sich immer weiter zurück, flüchtete – wie so viele vor ihm – in die virtuelle Welt von „Counter Strike“.
David S. war sein Leben lang das Opfer. Er verfiel seiner eigenen, ohnmächtigen Wut, die irgendwann in blinde Verzweiflung umschlug. Er war daran gescheitert, das Leben zu führen, das er hätte haben können und all das zu sehen, was diese Welt lebenswert macht.
Präventivmaßnahmen sind Pflicht
Obwohl es so wichtig ist, einem Amokläufer niemals das Gehör zu verschaffen, nach dem er sich sehnt, können und müssen wir aus diesen Geschehnissen doch etwas lernen. Die Gesellschaft darf sich von Außenseitern nicht abwenden, wir müssen endlich jeden einzelnen Menschen ernst nehmen. Man hätte Davids Leid früher erkennen und seine in der Schule häufig geäußerten Drohungen ernster nehmen können. Jedem Menschen in Davids Umfeld hätte klar sein müssen, dass er amokgefährdet ist.
Wir alle und allen voran die Politik müssen endlich präventiv handeln. Das ist einer der Gedanken, der uns nun immer und immer wieder durch den Kopf schießt. Eine weitere, äußerst pessimistische Stimme in unserem Kopf schreit wiederum beharrlich: Präventivmaßnahmen, verbesserte Sicherheitsmaßnahmen, Verbote und verstärkte Kontrolle schön und gut – wir werden diese Fälle trotzdem nicht verhindern können!
Ja, das mag schon sein. Aber eine Alternative gibt es nicht. Und wir sollten zumindest unser Möglichstes tun, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert.
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Bildquelle: Kaique Rocha unter CC 0 Lizenz