Chemnitz Ausschreitungen Demo Konzert

Zwischen Hitlergrüßen und #WirSindMehr: Das denken junge Leute in Chemnitz über die Ereignisse

Am Montag, den 03. September, traten im Rahmen des „Wir sind mehr!“-Gratiskonzerts viele bekannte Bands und Künstler wie Die Toten Hosen, Kraftklub und Marteria in Chemnitz auf, um ein Zeichen gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu setzen. Viele Zehntausende besuchten die Veranstaltung, nachdem es in den vergangenen Tagen zu ausufernden Demonstrationen und Gegendemonstrationen gekommen war. Wir haben mit Leuten vor Ort gesprochen, die die Ausschreitungen erlebt haben und auf das Konzert gegangen sind.

 

Der Rückblick

 

In der Nacht von Sonntag (26.08.18) geraten Daniel H. und seine Freunde mit Yousif A. und einem jungen Syrer während eines Stadtfests in einen Streit, woraufhin Daniel H. mutmaßlich von Yousif A. niedergestochen wird und später im Krankenhaus seinen Verletzungen erliegt. Am Tag darauf wird gegen die beiden ausländischen Tatverdächtigen Haftbefehl erlassen, während sich abends rund 6.000 Demonstranten zu einer Kundgebung des rechten Bündnisses „Pro Chemnitz“ am Karl-Marx-Monument zusammenfinden.

Zum gleichen Zeitpunkt versammeln sich 1000 Menschen auf Intiative des linken Bündnisses „Chemnitz Nazifrei“ vor der Stadthalle, um friedlich gegen rechte Gewalt zu demonstrieren. „Ich hatte mich gefreut, mit so vielen Menschen im Stadthallenpark ein Zeichen für Weltoffenheit und gegen Hetze setzen zu können„, erzählt Susanne, eine Chemnitzer Studentin, im Gespräch mit ZEITjUNG. Dann setzt sich jedoch die rechte Demo ohne Rücksprache mit der Polizei in Bewegung. Auch einige Teilnehmer der Gegendemo rücken bis an die Absperrungen vor. „Man stand sich die ganze Zeit in unmittelbarer Nähe gegenüber, so dass sich die Stimmung schnell aufheizte. Sie war viel angespannter und aufgeladener als bei den anderen Demos in Chemnitz. Von rechter Seite war unheimlich viel Hass und Gewaltbereitschaft zu spüren„, erklärt Julia, ebenfalls eine Studentin in Chemnitz, im Interview mit ZEITjUNG.

Infolgedessen versucht die Polizei, beide Lager zu trennen, scheint aber überfordert. „Es war relativ schnell für uns ersichtlich, dass die Polizei an diesem Tag sehr schlecht aufgestellt war und sich an einigen Stellen sehr fragwürdig verhielt„, berichtet Susanne. Das bestätigt auch Julia: „Das Verhalten der Polizei kann ich nicht nachvollziehen. Chemnitz hat seit Jahren eine funktionierende Naziszene, das ist kein Geheimnis. Im Zuge dessen hätte man mit mehr polizeilicher Verstärkung auftreten sollen.“ Vor allem das Dulden von Hitlergrüßen sorgt für Unverständnis. „Die Menschen in der Versammlung um den Karl-Marx-Kopf skandierten deutlich ausländerfeindliche Parolen bis hin zu Hitlergrüßen, die von der Polizei nicht sanktioniert wurden. Das hinterließ ein Gefühl der Unsicherheit bei mir. Zeitweilig hatte ich Angst„, sagt Susanne. Während sie angibt, zu keinem Zeitpunkt bedroht worden zu sein, berichtet Julia von Drohungen von rechter Seite: „Sie riefen explizit zur Jagd auf ‚Kanaken‘ oder ‚Zecken‘ auf.

Im Laufe des Abends schaukelt sich die Stimmung zwischen den beiden Demonstrantengruppen immer weiter hoch, während von rechter Seite Feuerwerkskörper in Richtung Polizei und Gegendemonstranten abgeschossen werden. Gegen 21 Uhr entspannt sich die Lage und nach einer Kundgebung vor dem Karl-Marx-Monument löst sich die rechte Demonstration, an der auch bürgerlich wirkende Menschen teilnahmen, wieder auf. Kurze Zeit später wird auch die Gegendemo von der Polizei beendet.

 

Die Stimmung in Chemnitz

 

Am Tag nach den Demonstrationen melden sich Politiker, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und Sachsensministerpräsident Michael Kretschmer, zu Wort und verurteilen die rechtsextremen Proteste, der Fremdenhass und die Hetzjagden auf Migranten. Auch werden die Ermittlungen gegen Demonstranten, die den Hitlergruß gezeigt haben, aufgenommen. Aber wie geht es jetzt den Menschen in Chemnitz, die die Ausschreitungen tatsächlich vor Ort miterlebten und von ihnen betroffen waren? Hat sich das Leben in dieser Stadt seit den Demonstrationen verändert?

Die Geschehnisse in Chemnitz dominieren die Gespräche. Ob auf der Arbeit oder im Studienumfeld, dreht sich sehr viel um die Demonstrationen und um alles, was bisher vorgefallen ist„, schildert Susanne. Die allgemeine Stimmung in der Öffentlichkeit beschreibt Julia als gespalten: „Es herrschen viele Meinungen wie mit Geflüchteten umgegangen werden soll.“ Eine Veränderung im alltäglichen Leben in Chemnitz konnte Susanne bisher aber nicht ausmachen. Die Frage, ob sie sich noch auf die Straße trauen würden, bejaht sie. Auch Julia will die Stadt nicht den Rechten überlassen und geht nach wie vor ganz normal vor die Tür. „Als weiße Person werde ich aber auch anders wahrgenommen„, wirft sie ein. „Bei ‚People of Colour‘ sieht das dagegen anders aus. So schwer es mir fällt, das zu sagen, aber ich denke, dass diese sich in nächster Zeit nicht alleine in der Stadt aufhalten sollten.“ Fatale Zustände, von denen viele von uns glaubten, dass wir sie bereits überwunden hätten. Für einige unvorstellbar, dass dies heute noch in Deutschland passieren kann.

 

„Chemnitz hat leider seit Jahren einen schlechten Ruf“

 

Doch warum wird das Fass des Fremdenhasses ausgerechnet in Chemnitz zum Überlaufen gebracht? Susanne tut sich schwer damit, die gesellschaftliche Stimmung als spezielles Chemnitzer oder sächsisches Problem zu bezeichnen. Allerdings konnten es ihrer Meinung nach rechte Strukturen in Chemnitz über einen langen Zeitraum hinweg verfestigen. „Auch verpasste Aufklärung, fehlende (Demokratie-)Bildung und Gefühle des Abgehängtseins in der sächsischen Gesellschaft spielen dabei sicherlich eine besondere Rolle„, mutmaßt sie. Diese Ansicht vertritt auch Julia: „Die Chemnitzer Bevölkerung fühlt sich oft als Verlierer. Chemnitz steht im Schatten von Dresden und Leipzig, hat kaum Tourismus und seit Jahren einen schlechten Ruf. Dazu kommt, dass der Westen oft arrogant auf den Osten blickt und sich dieses Bild verfestigt.“

Jedoch müsse man ihres Erachtens auch differenzieren, schließlich würde es nicht allen so schlecht gehen wie angenommen und dennoch herrsche eine negative Grundstimmung. Daran wären auch die katastrophale Verteilung und Betreuung der Geflüchteten Schuld, die auf Grund ihrer dezentralen Unterkünfte und mangelnder Beschäftigung den Tag in der Innenstadt, teilweise auch mit Alkohol, verbrängen. Dort käme es immer wieder zu Konflikten. „Außerdem herrschen auch immer falsche Informationen über die tatsächliche finanzielle Lage der Geflüchteten und so wird aus Neid und Missgunst nach unten weiter getreten und sich über diese Geflüchtete aufgeregt.“

 

„Man darf nicht vergessen, dass es auch ein anderes Chemnitz gibt“

 

Dass die Ausschreitungen in Chemnitz jetzt medial mit Bildern von hitlergrüßenden und gewaltbereiten Nazis aufgearbeitet werden, ist nichts Neues. „Chemnitz ist seit Jahren immer wieder durch rechtsradikale Übergriffe, meist auf linke Projekte, in den Medien. Die Stadt hat auch eine starke rechte Szene„, erklärt Julia. Jedoch dürfe man nicht vergessen, dass es auch Gegenwind gäbe. „Es gibt viele Menschen, gerade im kulturellen Bereich, die sich für Toleranz und ein offenes Miteinander einsetzen. Chemnitz hat so auch schöne Seiten und kann eine lebenswerte Stadt sein.“ Dem pflichtet auch Susanne bei: „Man darf nicht vergessen, dass es auch ein anderes Chemnitz, ein anderes Sachsen gibt. Menschen engagieren sich und es gibt viele tolle Projekte und Menschen, die sich für demokratische Werte einsetzen.“ Dennoch würden viele Leute nur die eine Seite von Chemnitz sehen und schnell verallgemeinern.

So mussten sich beide Studentinnen für ihre Entscheidung, in Chemnitz zu studieren, rechtfertigen. „Ich bin 2012 zum Studium nach Chemnitz gezogen. Schon damals hatte die Stadt einen eher negativen Ruf und ich wurde oft damit konfrontiert, dass Sachsen und insbesondere Chemnitz ein Naziproblem hätte„, berichtet Susanne. Auch Julia erzählt: „Ich wohne seit 2014 in Chemnitz und muss mich seitdem immer wieder, gerade bei Westdeutschen, rechtfertigen, warum ich dort wohne.“ Vor allem die bezahlbaren Mieten, das Familiäre und Gemütliche sowie die große kulturelle Szene, die selten erwähnt wird, schätze sie an Chemnitz sehr. Zwar mache es sie traurig, ihre Stadt jetzt so zu sehen, aber dennoch könne sie sich nicht vorstellen, zu gehen. Im Gegenteil. „Ich habe nicht vor, auf Grund der jetzigen Situation wegzuziehen, da die Stadt gerade jetzt Menschen braucht, die sich dem rechten Mob dauerhaft entgegenstellen, damit sich jeder Mensch wieder in Chemnitz wohlfühlen kann.

Das „Wir sind mehr“-Konzert, bei dem viele bekannte Künstler und Bands am 03. September auftraten und gegen Rechts stark machen wollten, wäre auf dem Weg dorthin eine gute Idee. Jedoch sehe sie die Gefahr, dass für viele Menschen nur der Aspekt eines Gratiskonzerts im Vordergrund stehen und der politische Hintergedanke ausgeblendet würde. „Mehrere tausend Menschen nahmen an der Veranstaltung teil. Diese fahren dann jedoch danach wieder nach Hause und Chemnitz hat wieder die gleichen Probleme. Statt #wirsindmehr sollte es meiner Meinung nach #wirbleibenmehr heißen„, äußert sie.

 

Das Konzert

 

Diese Meinung teilt Susanne, die auf dem Konzert war, nicht: „Solche Konzerte sollte es öfter geben, sie machen Hoffnung und geben Kraft. Mit solch einem Konzert ändert man nicht die Welt. Aber es setzt ein deutliches Zeichen. Und wie Felix von Kraftklub sagte: es ist manchmal wichtig zu zeigen, dass man nicht alleine ist. Es war großartig und kaum in Worte zu fassen! Durchgehend war eine positive und friedliche Atmosphäre im Publikum zu spüren, was viel Kraft gegeben hat.

 

Chemnitz Ausschreitungen Demo Konzert

 

Campino von den toten Hosen hatte während des Auftritts klar gemacht, dass es nicht um links gegen Rechts geht, sondern dass alles, was normalen Anstand hat, sich gegen einen Rechtsaußen-Mob stellt. Jede Band hatte ihr besonderes Statement und gemeinsam hatten sie alle eines: Wir stehen hier zusammen auf gegen Rechts! Liebe ist größer als der Hass. Das hat Mut gemacht. Feine Sahne Fischfilet und K.I.Z. waren meine persönlichen Highlights.“

 

Chemnitz Ausschreitungen Demo Konzert

 

Auch Sebbo – ein Student aus Coburg, der für das Event nach Chemnitz fuhr – zeigt sich begeistert: „Es war ein sehr gutes Konzert, mit nur sehr kurzen Pausen zwischen den Acts, sodass keine Langeweile aufkam. Man konnte auch von überall mega auf die Bühne sehen. Meine Musik war das überhaupt nicht, muss ich gestehen. Aber es ging nicht um die Musik, sondern um das Statement. Von der Message her haben mir am besten Feine Sahne Fischfilet und die Toten Hosen gefallen. Letztere haben noch Leute von den Ärzten geholt und ‚Schrei nach Liebe‘ gespielt. Das kam mega an. Die Atmosphäre war allgemein krass gut. Ich glaube, jeder war sich dessen bewusst, dass er Teil von etwas Wichtigem und Besonderem ist. Niemand hatte mit so vielen Menschen gerechnet und es waren einfach so viele unterschiedliche Menschen unterschiedlichen Alters da. Das hat mich am meisten gefreut. Zu sehen, dass das nicht nur ein Konzert für Jugendliche und junge Erwachsene wird, sondern was Generationenübergreifendes. Rechte habe ich keine gesehen und auch sonst von keinen Krawallen gehört oder so. Bei 65.000 Menschen haben die sich vermutlich nicht getraut, zu kommen.

 

Chemnitz Ausschreitungen Demo Konzert

 

Am beeindruckendsten war, wie sehr die Bands gerührt waren vom Erscheinen der Masse, besonders der Sänger von Kraftklub. Das hat dem Konzert nochmal einen neuen Touch gegeben und vor allem daran erinnert, wieso man zusammengekommen ist. Es mobilisiert viele Leute und macht eindrücklich deutlich, dass die AfD oder Nazis nicht die Mehrheit und nur ein kleiner Teil des Volkes sind. Aber ob so eine Veranstaltung die Meinung von Nazis verändert? Das bezweifle ich eher. Es wäre schön, so eine Masse für normale Demos zusammenzubekommen, ohne dass Bands dafür auftreten müssen.“

Was bleibt nach den Demonstrationen, dem Konzert, den Solidaritätsbekundungen? Werden die Ereignisse für ein großflächiges Umdenken in der Gesellschaft sorgen? Oder ist alles, was durch die Atmosphäre zieht, Sirenenschall und Bühnennebel? Wir werden sehen, welche Schlüsse ganz Deutschland und speziell Chemnitz aus den Ereignissen ziehen wird. Denn manchmal muss man das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen – wusste schon Karl Marx. Vielleicht hat das jetzt auch seine Stadt erkannt.

 

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