Tinder früher: Wie Dating zu Jane Austens Zeiten funktionierte
Um ehrlich zu sein, war ich nie ein großer Jane Austen Fan. Für mein 15-jähriges Ich war gerade der Film Stolz und Vorurteil zu kitschig, die Umgangsformen zu steif und Keira Knightly… naja, dazu muss man wohl nicht so viel sagen. Aber vielleicht lag dies auch daran, dass ich mich hemmungslos, frei und überhaupt sehr glücklich gefühlt habe, ganz ohne Korsett und kitschige Liebespoesie.
Früher und heute – und ganz früher
Im Rückblick gesehen hat mich meine jugendliche Unbefangenheit nicht in einen tiefen, emotionalen Wirrwarr katapultiert und starre Kodizes waren überhaupt nicht nötig. Obwohl ich natürlich vor pubertärer Unzurechnungsfähigkeit gestrotzt habe. Vielleicht lag das daran, dass früher alles eine festgelegte Bedeutung hatte. Ein Kuss beispielsweise war etwas Ernstes ohne die Frage nach Exklusivität, und dass man den anderen super süß findet, war damit spätestens klar. Zehn Jahre später verheißt selbiger manchmal immer noch den Beginn einer Beziehung. Aber eigentlich ähneln die meisten Küsse heute eher Fragezeichen zu sehr profanen Unklarheiten, wie „zu dir oder zu mir“ oder „ist das Spaß oder ein Egopush“.
Dating ist bisweilen ein schönes Schlamassel, bei dem wir uns alle gegenseitig verwirren. Die Männer mich, ich die Männer und meine Freund*innen sind sowieso alle heillos überfordert. So als wäre die Antwort 12 Uhr auf die Frage, wie gute Küsse schmecken.
Doch weil die Heldinnen Jane Austens allesamt ihren Mr. Darcy finden, stellt sich die Frage, ob sie das nicht trotz, sondern gerade dank der gesellschaftlichen Dating-Konventionen der viktorianischen Zeit tun. Zumindest als Inspirationsquelle könnte das reglementierte Liebeswerben herhalten. Denn auch wenn Lust eher chaotisch bis dynamisch ist, und Liebe vermeintlich uneigennützig seien sollte, so ist der Weg dorthin eine komplizierte Angelegenheit. Der Blick in eine Vergangenheit vor unserer Zeit hat mir vor Augen geführt, dass auch die überromantische Welt Jane Austens ihre Vorzüge hatte:
„Ich habe mich in sein gutes Herz verliebt“
Ach, was muss das für eine Zeit gewesen sein, in der nicht ein knackiger Hintern sondern Tugendhaftigkeit der Grund war, sich in jemanden zu vergucken. Ein wenig bedauere ich gerade, dass ich solche Komplimente noch nie bekommen habe: „Wow, was für eine Frau, ihre moralischen Ansprüche sind der Wahnsinn. Sie hat Charakter.“ Oder: „Ich habe mich in sein gutes Herz verliebt.“
Dass die Charakterisierung „zu nett“ der Versuch ist, den anderen nicht zu verletzen, ist fürsorglich und gleichzeitig ziemlich tragisch. Wie furchtbar wäre es wirklich zu hören, dass einem die einzige Person auf der Welt gegenübersitzt, die Männern mit Hundeblick nicht verfällt? Wie grotesk ist es stattdessen, dass Aufmerksamkeit und ehrliches Interesse zu den unattraktivsten Attributen unserer Generation gehören? Gerade wenn sich jeder im tiefsten Inneren doch nur nach Liebe und Nähe sehnt. Jeder.
Ein kleines bisschen Nervosität
Natürlich ist es vor allem auf die Reduktion der Frau als schönes Beiwerk zurückzuführen, dass ein Date in der viktorianischen Zeit mit einer leidvollen Prozedur des Schminkens und Kleidens startete. Korsagen sind wirklich überhaupt nicht alltagstauglich und deswegen, fein, dass wir uns anziehen dürfen, wie wir wollen.
Aber ist es nicht auch seltsam, dass ich bei einem Date möglichst unaufgeregt und casual auszusehen möchte, wenn ich ansonsten auch bei Matschwetter mit High Heels durch München radel? Mir hilft das, einem Treffen nicht zu großen Wert beizumessen und am Ende doch enttäuscht zu sein. Das Kennenlernen neuer Menschen scheint zu einem nicht weniger leistungsorientierten Hobby wie Marathons geworden zu sein, weshalb man für das einzelne Date keinen Aufwand betreiben möchte – oder kann.
Doch einem Treffen und vor allem dieser noch irgendwie fremden, unbekannten Person alle Aufmerksamkeit zu schenken, ist doch gerade der Grund, warum man datet. Man will, dass dieses einmalig erste, zweite, vierhundertste Treffen zwischen zwei Menschen etwas Besonderes ist. Doch das kann nur passieren, wenn wir diesem Zusammenkommen selbst diese Bedeutung geben – und auch einfach mal ewig brauchen, um das perfekte Outfit zu kreieren und zumindest ein kleines bisschen Nervosität zulassen.
Break the Rules
Da Anstandsdamen in der viktorianischen Zeit gang und gäbe waren, waren Kreativität und Witz gefragt. Erste Liebesbotschaften konnte man mit „Escort Cards“ dem oder der Auserwählten zustecken. Hätte ich die Wahl zwischen einer „Es passt. Ihr steht aufeinander“-Nachricht auf dem Handydisplay und einer im geheimen zugesteckten Karte wäre der Sieger ziemlich klar.
Saucy ‘Escort Cards’ Were a Way to Flirt in the Victorian Era https://t.co/DZsXDZUwdS <<< #Love #VictorianEra #EscortCards
— Natasha Phillips ناتاشا فیلیپس (@SobukiRa) January 4, 2016
Egal, ob ich ein unschudliges “If you have no objection, I will be your protection” oder das eindeutige Angebot “not married and out for a good time” oder ein kitschiges „I will risk everything depicted here if you will permit me to see you as far as the gate“ – ich fände es definitive aufregender. Nicht nur weil die Karten um einiges individueller waren, sondern vor allem durch das Mehr an Interaktion und den Beigeschmack von Regelbruch. Bei all den Retro-Trends, die es so gibt, wann kommen solche Anmach-Initiativen wieder in Mode? Interessante Zusatzinfo, nicht nur Männer durften hier den ersten Schritt wagen und auch gleichgeschlechtliche Singles konnten hier kreativ werden.
Ein ellenlanger Regelkatalog, ein Mangel an Gleichberechtigung und dass Eltern ihre Schwiegertöchter und -söhne selbst bestimmen konnten – Jane Austens Hauptfiguren hatten es sicherlich nicht leicht. Und all das kann meiner Meinung nach für immer in der Mottenkiste bleiben. Aber dass der Charakter das Attraktivste an einer Person sein sollte, dass Dates etwas Besonderes sind und Flirten kreativ, kann man sich ruhig öfters in Erinnerung holen.
Folge ZEITjUNG auf Facebook, Twitter und Instagram!
Bildquelle: Enric Fradera unter cc by 2.0