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Der unendliche Drang zu Reisen: Neugier, Abenteuerlust, Flucht?

Wenn Julia und ich uns heute treffen, werden wir wohl nicht überreißen, dass es schon ein Jahr her ist, dass wir der anderen Seite der Welt den Rücken zukehrten. Ich habe noch alles genau im Kopf: das letzte Abschiedsselfie am Flughafen, als ich den letzten Blogeintrag in die Tasten gehauen hab– ein Gefühl von Glück, gepaart mit Unwohlsein durchzog uns, unsere Zähne blitzten weißgelb in die Linse, stolz überließen wir unseren vollgestempelten Reisepässen die Performance. In uns schlummerten bereits Erinnerungen an eine Zeit voller Freiheit, Ungezwungenheit und Abenteuer. Und dann stand die Heimkehr bevor. Eigentlich nur ein 11h-Flug entfernt und doch kam es uns so unrealistisch vor, dass wir es erst, und auch nur annähernd verstanden haben, als die winzigen Umrisse einer deutschen Stadt unter den Wolken hervorkamen. Wir waren zurück, zurück aus Südostasien, dem Land der lächelnden Menschen, des ewigen Sommers und einer unglaublich reichen Kultur. Nie zuvor fühlten wir uns so schwerelos, so frei. Und da standen wir nun, am Frankfurter Flughafen – wir konnten es immer noch nicht fassen.

 

Was ist das, das da in uns schlummert?

 

Bei den einen kitzelt es mehr, bei den anderen weniger, aber irgendwie ist er bei jedem präsent, dieser Drang nach Reisen. Dieses gemeinsame Geschichtenerzählen, der Austausch mit Reisenden aus aller Welt. Der Moment, wenn wir unsere Füße im Sand vergraben und den Blick in die Ferne schweifen lassen. Wenn Bilder, seien sie im Kopf oder zuvor frisch aus der Google-Bildersuche entsprungen, plötzlich kitschig real werden. Wenn wir durch bunte Gassen bummeln, Vulkane besteigen, den Duft einheimischer Spezialitäten inhalieren und uns einen Moment lang vorzustellen versuchen, dass diese Orte schon immer stattfanden – ohne uns. Durch Reisen befriedigen wir unsere Neugier und speisen unsere Abenteuerlust. Unsere kleinen Ausreißer-Gedanken verwandeln sich in reale Handlungen.

Als man dem Philosophen und Schriftsteller Alain de Botton in einem Interview, welches in der Kulturzeitschrift Fikrun wa Fann des Goethe Institutes veröffentlicht wurde, die Frage stellte, warum Menschen reisen, antwortete er wie folgt:

„Menschen reisen, um sich in Erinnerung zu rufen, dass sie nicht alles wissen und dass die Welt größer, geheimnisvoller und aufregender ist, als es scheinen mag, wenn man den ganzen Tag zu Hause sitzt. Das Reisen ist eine ständige Erinnerung an all die Dinge auf der Welt, über die wir staunen.“

Eine ständige Erinnerung also, an Momente, die wir während unserer Reisen in uns aufzusaugen versuchen – denn nicht einmal das Bild, das wir mit unserem fotografischen Auge unfassbar in Szene setzen, kann unser Gefühl in jenen Momenten ausdrücken.

Es ist die Lust, sich vielleicht sogar kopfüber in eine Brise Unerwartetes und Unbekanntes zu stürzen, die uns treibt. Aber doch auch irgendwie so viel mehr, oder? Was wollen wir durch Reisen erreichen?

 

Schluss mit Gewohnheit

 

Durch die „Macht der Gewohnheit“, wie de Botton sie nennt, gewöhnen wir uns im Alltag an die außergewöhnlichsten Dinge. Das dadurch anscheinende Fehlen des Staunenswerten und Besonderen führt zu unserem inneren Drang, Monotonie, Bürokratie und die Fesseln des nine to five, des sich wiederholenden Rhythmus, abzuwerfen. Neugierig stürzen wir uns mit einer Reiseversicherung, dem letzten Bürokratiebrocken, der uns schon in die Wiege gelegt wurde, in die Welt, auf der Suche nach uns selbst, nach dem, was uns fehlt, unserer Linie für die Zukunft, die sich bisher durch unser Leben geschlängelt hat. Oder wir wollen endlich mal Zacken, Ecken und Bögen in sie hineinbasteln – angeekelt von Abitur – Studium – Beruf – Lebensläufen und dem Gefesseltsein an eckigen Bildschirmen.

 

Die ständige Flucht

 

Vielleicht flüchten wir aber auch vor Entscheidungen, Verantwortung und Ex-Beziehungen, die wir so lange unverdaut ließen, dass „die Reißleine ziehen“ allein nicht mehr reicht. Was wir brauchen, ist ein Ortswechsel, eine neue Passion. Wir suchen Wärme, und zwar nicht nur in Form von Sonnenstrahlen auf unserer Haut, sondern die von Menschen – Menschen, die uns Blicke schenken, die sich für unsere Geschichten interessieren, die uns offen gegenübertreten und mit denen wir über gesellschaftliche Konventionen und darüber, was wir im Leben eigentlich wirklich erreichen wollen, philosophieren können.

 

Die Welt kommt uns entgegen

 

Und dann wären da noch die Rahmenbedingungen. Die Welt scheint uns förmlich entgegenzukommen. Wir leben in reichen Industrieländern, existentielle Grundbedürfnisse sind bei uns durch unendliche Konsummöglichkeiten erfüllt. Zumindest die untersten beiden Stufen der Maslowschen Bedürfnispyramide wären damit schonmal safe. Und dann kommt irgendwann die Spitze dieser Pyramide: „Selbstverwirklichung“ nennt er sie – und ist da das Reisen nicht auch bei vielen Menschen ein essentieller Teil, den es ein Leben lang zu befriedigen gilt?

 

Von A2-Spanisch, kostbaren Reisepässen und der EU

 

Heute besuchen wir außerdem fünf Sprachkurse, weil die in der Uni nämlich kostenlos sind und verlieren dadurch sämtliche Hemmungen, in fernen Ländern einfach draufloszuquatschen – denn, Sprache verbindet und bevor wir den Preis für den handbemalten Kettenanhänger auf Englisch aushandeln, versuchen wir es besser mit unserem A2-Spanisch. Ich meine, why not? Das ist der einzige Weg, Sprachen zu lernen. Wir brauchen außerdem, zumindest in der Institution namens Europäische Union, keinen immensen Berg Papierkram zu erledigen, um zu verreisen. Unser nächster Flug ist nur einen Klick entfernt und mit dem kostbarsten Reisepass der Welt erwartet man uns quasi mit Handkuss. Dank Globalisierung, bezogen allein auf das Reisen an sich und die unvorstellbaren Weiten des world wide webs, wird die Welt immer kleiner und die Möglichkeiten sind umso größer.

Achja, und irgendwie, irgendwie wollen wir auch etwas erzählen, was die anderen so richtig vor Neid erstarren lässt, wir brauchen sie ein bisschen, die Anerkennung für unsere Erlebnisse.

Und manchmal sehen wir Probleme mit anderen Augen, engagieren uns gegen Plastikmüll und Lebensmittelverschwendung und sind schockiert über uns selbst, wenn wir die geographische Lage von Laos aus dem Kopf heraus bestimmen können, denn wir waren da und haben sie selbst erlebt, „(…) die Dinge, über die wir staunen.“

Wir fühlen einen weiteren inneren Drang – und zwar den, selbst in fernen Ländern etwas zu bewegen. Wir wollen ein Stück zurückgeben an die, die es viel schlechter haben als wir.

Paradoxerweise verpesten wir als Flugpassagiere während unserer Weltentdeckungsmissionen selbst die Luft. Mit nur einmal Hin- und Rückflug von Frankfurt -Dominikanische Republik wäre das klimaverträgliche Jahresbudget an CO2-Ausstoß einer Person beispielsweise eigentlich schon ausgeschöpft…

 

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Ja, auch das ist eine Seite der Realität – aber wie beeinflusst sie unseren Drang zu Reisen, der uns ständig unter den Füßen kitzelt?