Die Eltern-WG: Von Trennung, Chaos und Zusammenhalt
Die etwas andere WG: Ziemlich verrückt, ein wenig nervig und ein ganz klein wenig schön
Von da an wanderte meine Mutter in unser Gästezimmer und richtete sich über die Jahre hinweg ihr eigenes WG-Zimmer ein. Mein Vater machte dasselbe mit dem Schlafzimmer und schließlich hatte jeder seinen eigenen, kleinen Rückzugsort in unserer außergewöhnlichen Wohngemeinschaft. Aus dem Weg gehen war schlichtweg keine Option, denn dafür war in einer Doppelhaushälfte definitiv zu wenig Platz. Während sich für meine Eltern zu dieser Zeit unsichtbar für uns alles änderte, empfanden mein Bruder und ich die Umbruchphase als weniger drastisch – denn für uns änderte sich zunächst kaum etwas. Genau diese Beständigkeit ist Kindern in diesem Alter wohl das Wichtigste. Die Absurdität dieses Modells wurde mir erst einige Jahre – und viele fragende, erstaunte und grinsende Gesichter meiner Freunde später – bewusst.
Auf all den Streit der vorherigen Monate und den anschließenden innerhäuslichen Umzügen folgte eine kurze Zeit des großen Schweigens. Es schien, als wüssten meine Eltern, trotz ihrer neumodischen Idee, nicht so recht mit dieser Situation umzugehen. Kein Wunder – schließlich gab es für diese Kompromissform damals keinen Ratgeber, der die richtigen Lösungen ausspucken konnte. Doch wie heißt es so schön: „Kommt Zeit, kommt Rat.“ Nach und nach besserte sich die Lage und es kehrte allmählich wieder Normalität in unser Haus. Wir saßen gemeinsam beim Abendessen, erzählten von unseren Highlights des Tages, lachten und ich konnte mich eigentlich kaum erinnern, dass wir das vorher auf dieselbe lockere Art getan hatten.
Es entwickelte sich zunehmend eine Freundschaft zwischen meinen Eltern, die auf Vertrauen und besonders auf Rückhalt basierte und ich fand großen Gefallen daran, die beiden stets als gute Freunde, statt als großes Liebespaar zu sehen. Ich erkannte in unserem Modell die Absurdität, doch ich lernte es auch stetig mehr zu schätzen. Ich begann, Dinge aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu sehen. Nach und nach wurde dieses Leben in unserer kleinen Wohngemeinschaft immer mehr zum akzeptierten Normalzustand und irgendwie sogar ein ganz klein bisschen schön.
Unser kleines Wolfsrudel
Die Akzeptanz unseres Familienmodells teilte allerdings nicht jeder. Es war gefundenes Fressen für konventionelle Spießbürger und davon gibt es im Münchner Umland bekannterweise reichlich. Jede Gerda, Uschi oder Susi hätte gerne ihren Senf dazu beigetragen und meine Mutter mit Beziehungs- und Erziehungsratschlägen versorgt. Vermutlich hätten mein Bruder und ich 12 Stunden künstlich lachend im Garten herumlaufen müssen und uns ein Schild mit der Aufschrift „Wir sind glückliche Kinder“ um den Hals hängen sollen, bis unsere Nachbarn gänzlich beruhigt waren oder sich zumindest von der Angst befreien konnten, dass aus uns zwei völlig verrückte Menschen werden. Jeder machte sich Sorgen um uns „arme Kinder, die in solchen Verhältnissen aufwachsen müssen“ und jeder wusste es besser. Doch uns persönlich fragte keiner. Getratscht wurde anfangs viel und irgendwann lernten wir wegzuhören und unser Leben genau auf diese Weise fortzuführen. Eines wurde zu dieser Zeit allerdings mehr als deutlich: Die Eltern-WG ist definitiv ein absoluter Abturn für konventionelle Spießbacken.
Heute liebe ich unser Modell
Heute bin ich nicht mehr 11 und auch nicht 15, sondern 21 und blicke mit erstaunlich großer Begeisterung auf unsere kleine Wohngemeinschaft. Ich kann sowohl meine Eltern als auch die konventionellen Spießbacken von damals beruhigen, denn mein Bruder und ich sind wohlauf und kommen, trotz unserer Wohnkonstellation, tatsächlich ziemlich gut auf unser Leben klar. Ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, dass uns die letzten Jahre definitiv viel Chaos gebracht, aber auch viel Streit und Diskussion erspart haben. Denn so wurde eine Zeit voll Kritik und getrennten Schlafzimmern nach und nach von einer Zeit der Fürsorge und zunehmenden Freundschaft abgelöst.
Es hat lange gedauert bis mir bewusst wurde, wie viel Überwindung dieser Schritt meine Eltern damals gekostet hat. Ein Schritt, den sie nicht für sich selbst, sondern für meinen Bruder und mich gemacht haben, um uns mit einem elenden Ping Pong Spiel zu verschonen. Es war ein Selbstversuch auf ihre Kosten, bei dem sie sich und ihr Wohl ganz hinten anstellten. All das taten sie nur, um ihr Versprechen nicht zu brechen. Es war das große Versprechen, dass sich für unser kleines Wolfsrudel nichts ändern wird.