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Wenn Orte zu unerwünschten Erinnerungen werden

Im Laufe unseres Lebens kreieren wir unzählige Orte, die durch unsere Erinnerungen definiert werden. Restaurants werden zu Schauplätzen des ersten Dates, Brücken zu Illusionen von der ewigen Liebe und Städte zu Ruinen unserer Gefühle. Unsere Liebesgeschichten verfestigen sich in Routen durch die Welt. Wenn diese Vergangenheit nach wie vor ein Teil unseres Jetzt ist, kann das wunderschön sein. Doch wie gehen wir damit um, wenn wir nicht mehr daran erinnert werden möchten, wenn Vergangenes doch bitte vergangen sein soll?

 

Wenn sich die Vergangenheit frech in das Jetzt quetscht

 

Ich – verloren in einer der schönsten Städte Europas, in denen jede Ecke doch vertraut und fremd zugleich wirkt. Die Fassaden voller geblümter Balkone, die kleinen Plätze herrlich schön, doch zugleich verwirrend austauschbar. Verschwunden war das Licht der gusseisernen Laternen, längst war die Stille der Nacht durch das Mittagstreiben ersetzt. Und doch, war dieser Ort so einmalig, so eindeutig mit einem nicht mehr existenten Wir verknüpft, dass es mich nicht gewundert hätte, hätte sich ein Arm um mich gelegt. Dieser Moment kitschiger Nostalgie hätte sich nicht realer anfühlen können.

Ein Moment, in dem sich die Vergangenheit frech in meinen Spaziergang durch Barcelonas Viertel El Born quetschte – als würde es in den engen Gassen noch genug Platz für sarkastische Zeitreisen geben. Zunächst unangenehm. Wie ein einst erwünschter Gast, der zu ungebetener Stunde einfach wieder vor der Tür steht. Nicht, dass diese Stadt etwas von ihrem Zauber verloren hätte, im Gegenteil. Aber ich wollte unschuldig in die urbane Atmosphäre eintauchen, die Stadt neu erleben. Und nicht in ein Loch alter Geschichten fallen.

Das Problem an der Verknüpfung aus Ort und Person sind nicht die Erinnerungen an sich – es gab sie ja, die schöne Zeit. Das Problem ist, dass Orte nun das falsche Prädikat – unsere – haben. Wenn sich Gefühle längst verändert haben, wahrscheinlich sogar annulliert, kann eine Rückkehr schmerzhaft bis nervig sein. Und die neuen Lover haben bisweilen die Sorge, dass das Gedenken an die Verflossenen realer ist, als es ihnen lieb ist. Plötzlich wird auch die schöne Stadt oder der Lieblingsvietnamese zum Tabu. So als wären ehemals bereiste Städte, besuchte Restaurants unveränderlich an ehemalige Liebesgeschichten gebunden. Aber muss das sein?

 

Wenn wir, nur wir, die Orte unseres Lebens gestalten

 

Natürlich existieren Räume auf einer gedanklichen Ebene. Der französische Soziologe Henri Lefebvre spricht davon, dass unsere Imaginationen Städte „produzieren“. Doch Räume haben auch eine materielle Dimension, wurden aus Stein oder Holz gebaut, riechen ganz besonders, verändern ihr Äußeres ständig. Das Spannendste an der Theorie Lefebvres ist aber, dass Orte auch eine soziale Komponente haben. Laut ihm entstehen Restaurants, Brücken, Städte  vor allem durch unsere Interaktion und sozialen Muster. Wir, und nur wir, gestalten die Orte unseres Lebens.

Die Spaziergänge durch Barcelonas Gassen, das Teilen des Tiramisus – das alles hat einst den Zauber eines Ortes ausgemacht. Aber auch nur deshalb, weil wir damals bewusst so gehandelt haben, weil wir damals so handeln wollten. Trotzdem werden Geschichten sich nicht automatisch wiederholen, nur weil wir an einem durch GPS-Koordinaten genau definierten Punkt stehen. Menschen werden dadurch nicht real, Gefühle nicht wieder in all ihrer Farbigkeit durchlebt. Kehren wir wirklich oder auch nur gedanklich zurück, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass der Ort eingefroren wurde. Vielmehr haben wir die Freiheit – man könnte auch Verantwortung sagen – die Schauplätze unserer Gefühle mit neuem Inhalt zu füllen. Dass Erinnerungen reaktiviert werden, kann vorkommen. Aber vielleicht sind wir bis dahin sogar an einem Punkt, an dem das in Ordnung ist, an dem wir diese Rückblenden genießen können. Vielleicht können dann sogar die Orte unserer Geschichten uns erneut verzaubern.

Sein Blick, seine Berührungen, ich konnte ihn fast greifen. Aber nur fast. In der nächsten Sekunde war das geistige Bild schon wieder verflogen. Es waren genug Jahre vergangen, genug der mich umgebenden Läden hatten den Besitzer gewechselt, die Welt war so schnelllebig wie immer. Eine Freundin tippte mir auf die Schulter. 20 Grad im Februar sind eine permanente Einladung zu Eiscreme. Der Spaziergang, mein ganzes Leben war längst weitergezogen. Und trotz all der Bildhaftigkeit, der Intensität, der Plötzlichkeit mit der sie kam, war sie eben nur das – eine Erinnerung.

 

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Bildquelle: Pexels unter CC 0 Lizenz