Lass dir nix erzählen! So manipulierbar sind unsere Erinnerungen
Als kleines Mädchen bin ich im Hamburger Miniaturwunderland verloren gegangen. Völlig verzweifelt – ich konnte kaum selbst über das Geländer auf die kleinen Wunderwelten schauen – irrte ich auf der Suche nach meinen Eltern durch die Gänge, schob mich unter Tränen zwischen Erwachsenenbeinen hindurch und stellte mich schließlich weinend in eine Ecke, wo mich eine nette ältere Dame aufgabelte und zum Informationsschalter brachte. Nach einer Durchsage des Personals a la „die kleine Lena hat ihre Eltern verloren“, kam dann auch schon mein Vater, ebenfalls völlig ausgelöst, angelaufen und schloss mich erleichtert in die Arme. War doch so, oder?
Seit dem Besuch eines Vortrages der Rechtspsychologin und Verhaltensforscherin, Julia Shaw, an meiner Uni bin ich mir da nicht mehr so sicher. Die Deutsch-Kanadierin ist an der Londoner South Bank University im Bereich der Gedächtnisforschung tätig und wirft mit ihrer Arbeit nicht nur bei mir kleine bis mittelgroße Identitätsfragen auf, sondern berät unter anderem Justiz, Polizei und Militär. Wie das zusammenhängt?
Wir machen es alle: uns erinnern. Dabei ist Erinnerung aber nicht immer gleich Erinnerung, da wird grau zu blau und aus mittags wird abends und plötzlich heißt der Sommerflirt aus Italien von vor drei Jahren nicht mehr Alex, sondern Alessandro und gut küssen kann er auch noch. Ganz bestimmt. Erinnerungen sind nichts Festes. Wir spielen mit ihnen, modeln sie um, schmücken sie aus, fügen hinzu; wir fabulieren, verdrehen, wir vergessen. Wir erinnern uns sogar an Dinge, die nie passiert sind. Das machen wir gar nicht extra, sogar meist ganz unbewusst, und das Ganze nennt sich dann „false memories“ – ein Begriff, den Julia Shaw mit ihrer Forschung geprägt hat.
Memory Hacking
In einem Experiment versuchte sie, ahnungslosen und vor allem unschuldigen Studenten weis zu machen, sie hätten in ihrer Jugend eine Straftat, beispielsweise Diebstahl oder körperliche Gewalt inklusive polizeilicher Verfolgung, begangen. Dazu befragte sie die Eltern der Testpersonen, um eine möglichst glaubhafte Geschichte zu basteln und tischte diesen den Probanden, die nicht wussten worum es ging, auf. Nach 3 Gesprächsrunden im Abstand von je einer Woche glaubten 70% der Studenten die Story sei wahr. Shaw hatte ihnen eine „false memory“ eingepflanzt. Mehr noch: Einige warteten mit Detailbeschreibungen und Sinneseindrücken auf, eine Frau spielte den Vorfall für die Forscher sogar vor einer Kamera nach – und das, obwohl nie etwas geschehen und alles frei erfunden war. In Kontakt mit der Polizei, aufgrund eigener Straftaten, hatten die Studenten noch nie gestanden.
Was bedeutet das jetzt für uns? Erinnerungen schaffen Identität, was wenn ein großer Teil davon jedoch auf „false memories“ beruht? Alles nur erstunken, gelogen und geklaut? Richtig gehört, wir klauen sogar Erinnerungen, erklärt uns Shaw. So kann es schnell mal passieren, dass wir Geschichten von Freunden oder Verwandten, die wir häufig hören, aber nicht live miterlebt haben, einfach in unser eigenes Erinnerungsrepertoire aufnehmen und glauben, selbst dabei gewesen zu sein. Mein Bruder zum Beispiel behauptet bis heute felsenfest, dass er damals in Hamburg zwischen Lokomotiven und der Miniaturausführung Amerikas verloren gegangen ist, und nicht ich. Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Auch Fotos können täuschen: So glauben wir, uns an Erlebnisse aus unserer sehr frühen Kindheit erinnern zu können – ich weiß noch genau wie ich als 2-Jährige das erste Mal mit meinen Eltern an der Nordsee war und meine erste Sandburg gebaut habe, dabei ist das Unsinn. Unsere frühkindlichen Gehirne sind noch gar nicht in der Lage Erinnerungen zu speichern (auch infantile Amnesie genannt), aber das Foto an der Wand im Wohnzimmer suggeriert uns, dass wir uns daran erinnern können.
Ich bin schuld, oder doch nicht?
Wie dem auch sei: Dass ich in Hamburg vielleicht doch nicht das verlorene Kind gewesen bin, sondern mein Bruder, löst bei mir noch keine große Identitätskrise aus. Auch, dass das Lieblingseis meines 10-Jährigen Ichs aus dem Eiswagen, der im Sommer immer bimmelnd durch unsere Nachbarschaft fuhr, in meiner Erinnerung vielleicht viel schokoladiger und leckerer schmeckt, als es tatsächlich war, kann ich verkraften. Doch stellt euch mal vor, ihr sollt vor Gericht eine Zeugenaussage über eine beobachtete Straftat machen und plötzlich sitzt eine Julia Shaw vor euch und erklärt, dass das, was ihr mit 100%iger Sicherheit gesehen habt, so gar nicht passiert ist. Oder noch schlimmer: Ihr werdet selbst beschuldigt eine Straftat begangen zu haben, alles spricht gegen euch und ihr gesteht eure Schuld sogar ein, seid tatsächlich aber völlig unschuldig! So geschehen bei 70% der Studenten in Shaws Untersuchung, aber auch im realen Leben ist das längst keine Seltenheit. Was wenn wir die Forschungsergebnisse auf reale Schuldgeständnisse in Strafverfahren übertragen und 70% aller Aussagen auf falschen Erinnerungen beruhen?
Die Organisation „False Memory Deutschland e.V.“, die sich für die Aufklärung über falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch einsetzt und Betroffene unterstützt, berichtet zum Beispiel von einem 80-Jährigen Großvater, der 12 Jahre nach der vermeintlichen Tat von seiner Enkelin des sexuellen Missbrauchs beschuldigt und schließlich freigesprochen wurde. Die Beschuldigung der Enkeltochter beruhte auf falschen Erinnerungen.
Um die Anzahl von Fällen, wie diesem, zu verringern, coacht Julia Shaw Polizisten, Justizkräfte und Militär; und sie hat ein Buch veröffentlicht. Das schnappe ich mir jetzt – vielleicht finde ich ja doch noch heraus, wer sich damals im Miniaturwunderland verirrt hat und welchem Gedächtnis ich mehr vertrauen kann, meinem eigenen oder doch lieber dem meines Bruders. Eine Frage wird mich aber wohl noch eine Weile begleiten – Wer bin ich, wenn ich meinen eigenen Erinnerungen nicht trauen kann?