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Religiöser Fanatismus: Das andere Gesicht Israels

Von Jan Karon

Letzte Woche erschütterten zwei religiös motivierte Anschläge die Weltöffentlichkeit. Religiös motiviert? Was im ersten Moment nach islamistischen Terroristen oder erzkonservativen Südstaaten der USA klingt, ereignete sich in Israel – und ist das Symptom einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft.

Vergangenen Donnerstag wurden sechs Menschen auf der Schwulenparade „Gay Pride“ in Jerusalem bei einer Messerattacke verletzt. Am Folgetag wurde ein Brandanschlag auf eine palästinensische Familie in der Stadt Duma verübt, bei dem ein Kleinkind ums Leben kam. Das Motiv hinter beiden Taten: jüdischer Fanatismus.

Das ist deswegen interessant, weil es gar nicht so bequem ist, sich einzugestehen, dass religiöser Terrorismus auch von Juden ausgehen kann.

Erinnern wir uns zurück: Israel ist das Land auf palästinensischem Gebiet, das nur existiert, weil man nach dem Zweiten Weltkrieg einen „Staat für alle Juden“ gründete. Die Staatsgründung geschah zum Unmut der bis dato dort beheimateten muslimischen Araber. Der Kampf um territoriale Besitzansprüche führte erst letztes Jahr zum 50-tägigen Gazakrieg. Und unsere Kanzlerin Angela Merkel ist sich nicht zu müde, zu wiederholen, dass „Israels Sicherheit deutsche Staatsräson“ sei.

 

Kein Judenfeind, aber gegen israelische Politik

 

Das Land Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. Menschen müssen sich in Israel nicht darum sorgen, die Hand abgehackt zu bekommen, weil sie den falschen Gott verehren. Journalisten werden nicht mit Peitschenhieben für kritische Berichterstattung sanktioniert. Und Frauen müssen sich an keinen Scharia-konformen Dresscode halten.

Kritisiert man also als Deutscher das Land Israel, muss man vorsichtig sein. Der Staat Israel ist das Resultat des deutschen Holocausts. Es wird dann schnell die „historische Verantwortung“ und „Erinnerungskultur“ heraufbeschwört, darauf verwiesen, dass beide Länder ähnliche, weil humanistische Werte vertreten. Eine beliebte Argumentationslogik funktioniert so: Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sei ein Kriegstreiber, der Siedlungsbau im Westjordanland und Westbank falsch, aber gegen Juden an sich habe man ja nichts. Man sei schließlich Antizionist – und nicht Antisemit.

 

Kein Generalverdacht

 

Daran ändert sich nach den Anschlägen von vergangener Woche nichts. Natürlich sollte man nicht alle Juden unter Generalverdacht stellen, nur weil es religiöse Fanatiker gibt, die solche Gräueltaten verüben. Das wäre in etwa so, wie Muslime zu stigmatisieren, weil IS-Terroristen Anschläge auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ verübt haben.

Dennoch verändern die Übergriffe von streng religiösen Juden die Wahrnehmung des Landes. Staatspräsident Reuven Rivlin nannte die Anschläge metaphorisch „Flammen von Gewalt und Hass“ und sprach von „pervertiertem Glauben“. Netanjahu bezeichnete sie als „entsetzliche Morde“ und „Terror in jeglicher Hinsicht“. Hört man diese Aussagen, fällt auf: Es ist plötzlich schwer von einer Opferrolle zu faseln, wenn die Opfer selbst zu Tätern werden – und die Politik das verurteilt.

 

Die Kehrseite der Medaille

 

Die offiziellen Kondolenzbekundungen und Verurteilungen seitens der Regierungsvertreter sind in ihrer Schärfe vielleicht überraschend, aber verstehen sich gewissermaßen von selbst. Abseits der Aussagen der staatlichen Autoritäten offenbart aber Israel auch ein anderes Gesicht.

Es ist beispielsweise auf der Facebook-Seite von Rivlin zu finden. Als dieser die Terroranschläge auf dem sozialen Netzwerk ächtete, fanden sich schnell Kommentare nationalistischer Juden unter dem Posting, die von wüsten Beleidigungen wie „dreckiger Verräter“ bis hin zu Morddrohungen reichten.

Das andere Gesicht Israels wird auch vom Lehava-Politiker Benzi Gopstein verkörpert. Dieser nannte die Schwulenparade eine „Abscheulichkeit“ und „Schande für sein Land“. Gar nicht mal so humanistisch.

Das andere Gesicht Israels ist auch vor Ort immer wieder in Erscheinung getreten: In den Siedlungsgebieten wurden in den letzten Monaten immer öfter Palästinenser drangsaliert: Die Reifen ihrer Autos zerstochen, die Ernten ihrer landwirtschaftlichen Nutzungsflächen gestohlen, ihre Moscheen in Brand gesetzt, kurz gesagt: muslimische Mitmenschen um ihre Lebens- und Existenzgrundlage gebracht.

 

Ein tief gespaltener Staat

 

Die Wahrheit ist: Das andere Gesicht Israels zeigt, wie tief das Land gespalten ist. Obwohl nahezu 40% der Bevölkerung Araber sind, gelten diese als Zweitklassenbürger. Bürgerrechte sind an den jüdischen Glauben geknüpft. Lebt man aber einen anderen Glauben aus, muss man den Verzicht auf eine Vielzahl von Bürgerrechten und Privilegien in Kauf nehmen.

40% der Bevölkerung lehnen gemeinsame Schulen für Juden und Muslime ab, 50% fordern die Abschiebung von Arabern aus dem heiligen Land in die Westbank und nahezu 60% lehnen eine rechtliche Gleichstellung der Muslime ab.

Rassismus ist in der Gesellschaft tief verankert, Toleranz gegenüber Muslimen für viele Juden ein Fremdwort. Das brachte der linksliberale israelische Publizist Gideon Levy zuletzt auf den Punkt und stellte die Frage: „Ist Israel ein rassistischer Apartheidsstaat?“

Die Anschläge der vergangenen Woche sind somit nur die Symptome eines Problems, das tief in der Gesellschaft verwurzelt ist. Das Problem der Gesellschaft seien „Israelis, die sich selbst offen, schamlos und ohne Schuldbewusstsein als nationalistische Rassisten definieren“, um bei den Worten Levys zu bleiben. Solange die Politiker nicht dagegen vorgehen, und auch vereinzelte Übergriffe auf Palästinenser oder Hetze in sozialen Netzwerken verurteilen, bleiben all ihre Bemühungen um die richtigen Worte bei Terroranschlägen Augenwischerei.

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Bildquelle: David Poe unter CC by 2.0