Das Gedankenkarussell auf Endlosschleife: Leben mit Zwangsgedanken
Manchmal hat Leonie das Gefühl, ihre Gedanken bestimmen ihr Leben. Egal, was sie tut, sie tut es mit Angst. Leonie leidet unter Zwangsgedanken.
Leonie geht spazieren. Es ist einer dieser Tage, an denen sich Sonne und Wolken so oft miteinander abwechseln, dass man sich eigentlich gar nicht sicher ist, welche Jahreszeit gerade herrscht. Nur die roten Blätter an den Bäumen vor ihr verraten, dass es Herbst wird. Die Wolken schieben sich zur Seite, es wird hell. Leonie hält inne, erschrickt. Denn Helligkeit bedeutet für sie Tod. Denn darüber berichten ja schließlich alle, die schon einmal eine Nahtoderfahrung hatten. Sie sprechen von einem hellen Tunnel aus Licht. Sehe ich den gerade?, fragt Leonie sich. Ihr wird warm, das Herz beginnt zu rasen. Sie ist eine Verfolgte von ihren eigenen Gedanken.
Damit ist Leonie nicht alleine. Bei immer wiederkehrenden, unangenehmen Befürchtungen spricht man von Zwangsgedanken. Gemeinsam mit den Zwangshandlungen gehören sie zu den Hauptsymptomen der Zwangserkrankungen. Davon sind etwa 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung betroffen. Zwangsgedanken und Zwangshandlungen gehen oft Hand in Hand, die Handlungen werden ausgeführt, um die durch die Zwangsgedanken verursachte Anspannung zu reduzieren.
Leonie sieht überall Anzeichen für den Tod
Ob Leonie eine Zwangserkrankung hat, weiß sie nicht. Denn ihre Gedanken können auch Symptom einer anderen psychischen Erkrankung, wie zum Beispiel einer Angststörung, sein. Was sie aber weiß ist, dass ihr eigenes Grübeln sie belastet. Sie denkt oft an die eigene Gesundheit, an die ihrer Familie. In ganz alltäglichen Situationen sieht Leonie ein Anzeichen für den Tod. „Vor wenigen Wochen habe ich mit meinem Freund vor dem Schlafen geschrieben“, erzählt sie. Er antwortete ihr mit einer Sprachnachricht. Das tat er sonst nie. Was wenn er spürt, dass ich heute sterbe? Was, wenn er deshalb etwas anders macht?, fragt sie sich. Panik macht sich in ihr breit, sie schläft unruhig, hat einen Alptraum. „In denen geht es eigentlich meistens darum, dass ich sterbe oder bereits tot bin“, erzählt Leonie.
Neben den Gedanken um den Tod sind besonders verbreitet die Wasch-, Kontroll-, und Ordnungszwänge. Oft werden die eigenen Handlungen dabei nicht als krankhaft erkannt. „Das Krankheitsbild wird da einfach sehr oft falsch diagnostiziert,“ sagt Pina Treiber, Therapeutin an der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee gegenüber der Welt. Über Zwangserkrankungen sei bisher außerdem wenig bekannt.
Rituale, die den Tod verhindern
Auch Leonie war lange nicht bewusst, dass es sich bei ihr um Zwangsgedanken handelt. „Vor kurzem wurde mir erst klar, dass mein Verhalten nicht normal war“, erzählt sie. Eine besonders schlimme Phase hatte sie mit 14. „Da dachte ich permanent, dass ich bald sterbe. Ich habe dann bestimmte Dinge getan, weil ich dachte, dass ich meinen Tod so verhindern könnte. Ich konnte zum Beispiel nirgendwo hin, ohne davor 50 Vokabeln aufzuschreiben und nicht schlafen gehen, ohne alle Schuhe in eine Reihe gestellt zu haben.“ Ein Ritual ist Leonie besonders in Erinnerung geblieben. „Ich hatte so ein Herz aus Metall, das hat Geräusche gemacht“, erzählt sie. „Das sollte man unter sein Kopfkissen legen, um Alpträume fernzuhalten. Jeden Abend habe ich es in die Mitte meines Kopfkissens gelegt, hat es dabei ein Geräusch gemacht, habe ich den Vorgang wiederholt. So lange, bis es ohne Geräusche geklappt hat. Ich dachte, wenn ich es nicht tue, würde mein Herz stehen bleiben.“ Diese Phase hat Leonie überwunden, Zwangshandlungen habe sie seit dem nicht mehr ausgeführt. Jetzt ist Leonie 22. Die Angst vor dem Tod, verbunden mit ihren Zwangsgedanken sind jedoch geblieben.
Zwangsgedanken lassen sich in vielen Fällen mit Therapie oder Medikamenten behandeln. Je nach Schweregrad können sich Betroffene durch bestimmte Übungen auch selbst helfen. Auch Leonie ist jetzt in Therapie, um die Angst vor dem Tod zu besiegen. „Ich bin jung, ich werde jetzt nicht einfach so sterben“, sagt Leonie mehr zu sich selbst und versucht das Gedankenkarussell zu stoppen.
- Orthorexia Nervosa: Wann wird Clean Eating zur Sucht?
- Misophonie: Ich werde aggressiv, wenn andere essen
- Dear Evan Hansen: Der Kampf mit Depressionen
Folge ZEITjUNG auf Facebook, Twitter und Instagram!
Bildquelle: Liza Summer von Pexels; CC0-Lizenz