Lampedusa Fluechtlinge

Festung Europa: Ein Geisterschiff liegt vor der Küste

Von Sebastian Huber

Pünktlich zum neuen Jahr, gerade als die alten Geister durch genügend Knallfrösche und größeres Kaliber lautstark vertrieben worden waren, da spukten andere, viel furchteinflößendere Gespenster vor den Küsten Europas umher. Und wie jedes gute Gespenst, kamen sie natürlich nicht zum ersten Mal. So las man, den Kater des Vorabends noch in den Gliedern: „Invasion der Geisterschiffe bedroht EU„. Kaum hatte das neue Jahr begonnen, trieben die alten Geister wieder ihr Unwesen an den Grenzen Europas. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Wort „Geisterschiff“. Geprägt wurde es von Ewa Moncure, Sprecherin für die seit dem letztem Jahr verantwortliche Organisation für den Schutz von Europas Außengrenzen: Frontex.

Mit dem Auslaufen des italienischen Hilfsprogramms Mare Nostrum zum 31.10.2014, übernahm seitdem die Grenzschutzagentur, deren Name vom französischen „frontières exterieur“ abgeleitet ist, unter dem größeren Deckmantel des EU-Projektes „Triton“ die Überwachung an Europas Grenzen. Man könnte jetzt im Bild bleiben und darauf eingehen, dass der 31. Oktober in Amerika ja bekanntlich als Walpurgisnacht aller Geisterfeste gilt. Oder darüber sinnieren, dass Triton ja schließlich als dreizackschwingender Meerjungssprössling der griechischen Götter Poseidon und Amphitrite auch in die Kategorie der übernatürlichen Wesen fällt.

Worum es hier aber gehen soll, ist das Bild des Geisterschiffes. So hatte Frau Moncure wohl nichts Böswilliges im Hinterkopf und wollte schlicht den „neuen Grad an Grausamkeit“ der Schlepper bezeichnen, die schon seit längerer Zeit ausgesonderte Frachtschiffe zum Transport von Geflüchteten nach Europa benutzen. Waren es zuvor höchstens ein paar hundert Menschen, die sich auf rostigen Fischkuttern Richtung Europa aufmachten, so gehen die Ankunftszahlen dank der Kapazität von großräumigen Frachtern deutlich nach oben.

 

Europa will sich vor seiner Verantwortung drücken

 

Interessant ist hierbei aber, dass die neue Praktik der skrupellosen Schlepper durch dieses ziemlich alte Mysterium der Schifffahrt beschrieben wird. Neuer Wein in alten Schläuchen, könnte man sagen. Denn Geisterschiffe gibt es wohl seit dem Bestehen der Seefahrt. Als schwimmende Container, die jede Möglichkeit der Flucht bei ansteckenden Krankheiten sprichwörtlich über Bord warfen, kam es nicht selten vor, dass die gesamte Besatzung eines Schiffes auf längeren Fahrten allmählich dahinsiechte und der Kahn führerlos durch die Gewässer geisterte.

Ist man wohlwollend, so sieht man noch die Gemeinsamkeit jener Geisterschiffe und derer, die nun störrisch auf Europas abgeschottete Grenzen zusteuern, in eben dieser Führungslosigkeit. Ist man weniger wohlwollend, so fragt man sich, ob die Bezeichnung dieser Frachter als Geisterschiffe nicht nur etwas über die wirkliche Abwesenheit der Schlepper aussagt, sondern auch über die gewünschte Abwesenheit der hunderten Flüchtlinge, die im Bug kauern. Wenn Geisterschiffe also Schiffe sind, die keine Besatzung haben: Was sagt das dann aus über die Einstellung Europas zu den doch aus allen Nähten platzenden, nicht selten ausgesonderten Viehtransportern? Wohl vor allem, dass man sich wünschte, dass sie leer wären, denn damit wäre ja die Mission erfüllt, Europas Grenzen vor Fluten an Flüchtlingen zu schützen.

Geisterschiffe sind aber nicht leer. Selbst, wenn alle Besatzungsmitglieder zu wenige Zitronen gegessen hatten und langsam dem Skorbut verfallen waren, so wurden sie historisch ja explizit nicht als Totenschiffe bezeichnet. Das Unheimliche, die Angst, die Europa vor diesen Massen an fremden Gestalten hat, ist somit im Bild des Geisterschiffes auf den Punkt gebracht. Europa, an den Außengrenzen wie im innersten Herzen, hat Schiss vor der Welle an Menschen, die Anspruch auf etwas erheben wollen, was ihnen ja herrgottnochmal nicht zusteht („Das Boot ist voll!“). Europa hat vor allem Angst vor den Geistern, denn wie alle guten Geister, wenn sie uns nicht gerade verlassen, erinnern sie uns an etwas, das wir versäumt haben. Wie Patrick Swayze, der in „Ghost“ (1990) nach Rache sinnt. Das ist die größte Angst, die in der Festung Europa herrscht: Zu realisieren, dass es noch etwas zu tun gibt.

 

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Bildquelle: Zeesenboot unter CC BY 2.0