Leben für den Lebenslauf

Alles für den Lebenslauf: Lost in Perfection

Bildungsforscher geben uns Studenten ja gerne verallgemeinernde Spitznamen. Die „Generation Praktikum“ war gestern, der „Spiegel“ titelte vor einiger Zeit „Generation Merkel“. Aber eigentlich sollten wir uns selbst den Namen „Generation Perfektion“ verpassen. Ständig auf der Suche nach dem optimalen Lebenslauf, nach weiteren Hard Skills und noch mehr Zeugnissen, verschwinden wir langsam in einem Berg aus Qualifikationen, die niemand braucht. Auch in diesem Jahr stieg die Zahl der Studierenden in Deutschland kontinuierlich an. Das ist an sich kein schlechtes Phänomen; klar ist aber, dass durch viele Studenten desselben Faches viel Konkurrenz entsteht.

Und so befinden wir uns in einem ständigen Kampf. Um bessere Noten, um anspruchsvollere Praktika. Jura- und Medizinstudenten kämpfen bisweilen auch um die Sitzplätze im Hörsaal. Das Perfektionieren beginnt in der Uni. Sechs Uhr aufstehen, acht Stunden Vorlesung, kurz Pause, dann Tutorium, daheim noch Texte lesen. Diesen Stundenplan habe ich genau zwei Tage lang durchgehalten, danach bummelte ich doch erst wieder mittags in die Kurse. Andere sind da disziplinierter. Sie erstellen sich einen minutengenauen Schedule, timen ihren Schlaf und lernen bis tief in die Nacht hinein. Auf Partys oder in Bars sieht man sie kaum noch, höchstens beim zittrigen Kaffeeschlürfen vor dem Seminar. Sie gehören wahrscheinlich auch zu den 49 Prozent aller Studierenden, die sich durch Stress in ihrem Studium beeinträchtigt fühlen, was eine Umfrage des Deutschen Studentenwerkes aufzeigte.

Das Gruselige dabei: Nicht nur Studenten der betriebswirtschaftlichen Fakultät legen dieses Verhalten an den Tag. Zunehmend beobachtet man die schon seit Urzeiten als „Bummler“ verspotteten Kultur- und Geschichtswissenschaftler, wie sie sich der Pusher-Bewegung anpassen. Der Germanistik-Student im 20. Semester könnte bald nur noch ein Fall fürs Museum sein. Entschleunigung? Gibt’s nicht. Der Bachelor sollte möglichst vor dem 21. Lebensjahr durch sein, die unbezahlten Praktika sind für die Semesterferien eingeplant, nebenbei lernt man noch etwas Chinesisch. Weil sich das so gut im Lebenslauf macht.

 

Der Saufurlaub wird zur Bildungsreise

 

Ach ja, der Lebenslauf. Unsere Liste der unnützen Dinge, die wir können und die wir mal irgendwie irgendwann gemacht haben. Ein Ferienkurs in Altgriechisch? Ab in den Lebenslauf. Ein Saufurlaub auf Mallorca? Ab in den Lebenslauf, natürlich als „Bildungsreise“ deklariert. Ehrenamtliche Arbeit in der Suppenküche? Ab in den Lebenslauf, aber in Großbuchstaben, bitte. Der karrieretechnische Schwanzvergleich hat begonnen: Ich hab den Längsten, den dicksten Lebenslauf.

Das soll nicht heißen, dass diese Aktivitäten komplett sinnlos sind. Falsch ist bloß, dass wir immer mehr dazu neigen, eigentlich spaßige Dinge sofort in die CV-Schublade zu stecken. Bei der Auswahl einer neuen Fremdsprache lassen wir uns eher davon leiten, was uns denn im Berufsleben weiterbringt, anstatt auf unser Herz zu hören und doch Sanskrit zu belegen. Einfach, weil das so gut klingt und die Schrift so hübsch aussieht. Ist doch egal, dass man das eigentlich nicht braucht. Stattdessen wird es doch der Business-Englisch-Kurs („Das kann ich sicher mal anwenden…“), wo man als Geisteswissenschaftler zwischen zwanzig BWLern hockt und sich nach wenigen Minuten überlegt, den zukünftigen Managern ihre Aktentaschen mal ordentlich um die Ohren zu hauen.

Der langersehnte Thailand-Trip wird zugunsten eines Auslandspraktikums verschoben und statt Schnee sieht man im Winter nur den hämisch blinkenden Strich im Word-Dokument, der uns an die Hausarbeit erinnert, die wir noch schreiben wollten. Wer neben dem Studium noch Zeit hat, engagiert sich ehrenamtlich. Ein Bekannter, nennen wir ihn Z., gab neulich offen zu, dass er nur in einer Organisation mithelfe, weil das den zukünftigen Chef beeindrucke. Eigentlich könne er die Zeit ja auch besser nutzen. Allerdings schreiben Unternehmen und auch viele Stipendien mittlerweile vor, dass sich der Bewerber irgendwie sozial beteiligen soll, und wenn er nur in der Fußgängerzone mit der Spendendose rappelt.

Deshalb steht Z. jetzt in den Münchner Hochschulen und spricht Menschen an, klärt sie über die Wichtigkeit des Vereins auf, für den er arbeitet, und kassiert Lob und Anerkennung dafür. In seinem Lebenslauf hat er diese Tätigkeit großspurig ausformuliert. Und konnte damit punkten: Seit ein paar Monaten ist er offiziell Stipendiat. Obwohl er einen Dreck auf sein Ehrenamt gibt.

 

Der Druck nimmt immer weiter zu

 

Neben unserer Menschlichkeit bleibt auch die Gesundheit auf der Strecke: „Psychologische Belastung ist kein Randgruppenphänomen, sondern vielmehr unter Studierenden weit verbreitet“, stellt Astrid Schäfer vom Deutschen Studentenwerk fest. Die Nutzung von psychologischen Beratungsangeboten der Studentenwerke sei ebenfalls massiv angestiegen; innerhalb von zehn Jahren um 45 Prozent. Viele Studenten klagen über Zeitnot und Leistungsdruck, Überforderung und Unsicherheit. G8 und Bologna zwangen uns zwar zum frühestmöglichen Eintritt in die Leistungsgesellschaft, in der Uni machen wir uns allerdings täglich selbst den größten Stress.

Deshalb: seid lieber ein bisschen weniger vernünftig! Ein siebtes Semester ist kein Weltuntergang, ein achtes auch nicht. Lieber zweimal das Studium abbrechen, als lebenslang im falschen Beruf festzusitzen. Eigentlich sollten wir es wie unsere Eltern machen: gemütlich studieren, viel diskutieren und wild feiern. Aus denen ist schließlich auch was geworden.

Wer sich in seiner aktuellen studentischen Situation unwohl fühlt, dem kann geholfen werden: die 58 bundesweiten Studentenwerke bieten eine psychotherapeutische und psychosoziale Beratung an, kostenfrei und streng vertraulich.

 

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Bildquelle: Robert Servais unter CC 0 Lizenz