Regenbogenfahnen der LGBTQ-Community

Gendern 2.0: Interview mit dem Verein für geschlechtsneutrales Deutsch

ZEITjUNG: Ist Gendern für euch Identitätspolitik? Und ist Identitätspolitik etwas Schlechtes?

Marcos: Ich finde den Begriff „Identitätspolitik“ sehr schwierig. Der Ausdruck wird ja häufig von Leuten aus der rechten Hälfte der Gesellschaft verwendet, um bestimmte Entwicklungen aus dem linken Spektrum anzugreifen. Die Argumentation dahinter verstehe ich aber nicht genau. Ich sehe schon eine gewisse Problematik darin, wenn Identitäten von Personen als Ausschlusskriterium dienen, beim Gendern ist das aber eher andersrum: Die bisherige Sprache betont das Geschlecht extrem stark, unser Ansatz hingegen möchte genau das vermeiden. Man stelle sich vor, wir würden mit der Endung jedes Substantives die Hautfarbe einer Person betonen – das wäre total absurd und auch ziemlich rassistisch. Beim Geschlecht wird das irgendwie einfach hingenommen. Der aktuelle Zustand legt also einen viel größeren Fokus auf die Identität einer Person als die Nutzung geschlechtsneutraler Sprache.

Averyn: Unser Vorschlag ist auch nicht nur für nichtbinäre Menschen gedacht, sondern soll alle Geschlechter und Personen miteinbeziehen – das scheinen manche Leute misszuverstehen. Wir wollen also keine Spaltung oder Trennung der Gesellschaft, sondern vielmehr eine stärkere Inklusion.

ZEITjUNG: Kürzlich erregte eine Debatte über „Entdecker“ und „Verteidiger“ bestimmter politischer Positionen Aufsehen. Wie blickt ihr auf die Zukunft? Werden sich die Fronten zwischen den beiden Lagern weiter verhärten?

Averyn: Meiner Meinung nach kommt diese Polarisierung genau deshalb zustande, weil es so viele stark wachsende progressive Strömungen gibt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind wir so weit fortgeschritten, dass Themen wie Gleichberechtigung und Menschenrechte endlich auf der Tagesordnung stehen. Solche modernen Angelegenheiten schließen jedoch Neuerungen und Umbrüche mit ein, dementsprechend gibt es auch eine entgegengesetzte, konservative Front, die dagegen steuert und das Alte bewahren möchte.

Marcos: Der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier, altbekannte gesellschaftliche Normen und Strukturen geben vielen Leuten Sicherheit und Halt. Es gibt allerdings eine ständige Verschiebung dieser Strukturen. Ein gutes Beispiel ist die Ehe für alle: Vor einigen Jahrzehnten war so etwas in Deutschland noch undenkbar, und selbst im Jahr 2017 sprachen sich noch drei Viertel der CDU dagegen aus. Im aktuellen Wahlkampf positioniert sich, abgesehen von der AfD, niemand mehr gegen die Heirat von Homosexuellen. Stattdessen gehen die konservativen Parteien über zu neuen Themen – beispielsweise zum Gendern oder zu Rechten von transgeschlechtlichen Personen. Sobald sich progressive Änderungen einmal durchgesetzt haben, steigt auch ihre Akzeptanz – der Charakter des Neuen, Bedrohlichen geht verloren. Stimmen, die das Ganze rückgängig machen wollen, verschwinden dann oftmals komplett.

ZEITjUNG: Nehmen wir an, ich finde euer Vorhaben gut und möchte es unterstützen. Ist das als Cis-Person überhaupt möglich? Und wenn ja, wie kann ich mitmachen?

Averyn: Klar, bei uns dürfen alle mitmachen. In den Foren gibt es zum Beispiel auch einige Menschen, die zur Begrüßung sofort klarstellen, dass sie sich nicht so gut mit Sprache oder Grammatik auskennen, sich aber unbedingt geschlechtsneutral ausdrücken möchten. Die Hauptsache ist, dass man unser Projekt unterstützt. Konkret kann man dabei helfen, das Vorhaben zu verbreiten und in der Gesellschaft ein Bewusstsein für die Sache zu schaffen. Ein Beitritt in den Verein ist natürlich ebenfalls möglich, genauso wie eine Mitgliedschaft in den Diskussionsforen oder eine Teilnahme an unseren Umfragen. Dort kann man dann auch die eigene Meinung einbringen.

Marcos: Ein Beitritt des Vereins geht mit einem geringen Mitgliedsbeitrag einher, der bei niedrigem Einkommen auch entfällt. Das Geld nutzen wir dafür, unsere Website zu finanzieren oder in Zukunft Flyer und Broschüren zu drucken. Wer mag, kann auch einfach schon mal damit anfangen, bestimmte Formen in den eigenen Sprachgebrauch zu integrieren und somit andere auf uns aufmerksam zu machen.

ZEITjUNG: Vielen Dank für das Gespräch!

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Bildquelle: Daniel James on Unsplash, CC0-Lizenz