Plötzlich nicht mehr weit, weit weg: Wie gehen wir mit Krieg um?
Die Menschheit macht das, was sie immer gemacht hat: Sie führt Krieg. Egal, ob der Auslöser ein religiöser, ein territorialer oder sonst einer ist. Jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde. In Syrien, in Mali, in Nigeria. 2014 wurde mit 424 bewaffneten Konflikten und 21 laufenden Kriegen ein trauriger Rekord seit Beginn der Aufzeichnung der Statistiken Anfang der Neunziger aufgestellt. Und mittendrin: Wir, die westlichen Mittzwanziger, denen trotz der täglichen Toten das aktuelle Facebook-Profilbild, die Wahl des Mittagessens oder die der Serie am Abend deutlich wichtiger sind als hungernde Kinder in Syrien oder hingerichtete Polizisten im mexikanischen Drogenkrieg.
Keine Generation lebte seit dem Zweiten Weltkrieg in einer Welt mit so vielen Kriegen wie wir. Und trotzdem bleiben wir meist seltsam unberührt. Klar, man erschrickt über Bomben-Attentate in Israel oder über die Entführung von Hunderten Mädchen von der Terrororganisation Boko Haram in Nigeria, am nächsten Tag aber hat man die schrecklichen Bilder meist längst vergessen. Ist unsere Generation also überhaupt geprägt von den Kriegen, die den Erdball überziehen wie ein Spinnennetz. Und wenn ja, wie?
Nun, so abgedroschen dieser Satz klingt, Paris hat unser Verhältnis zum Krieg verändert. Denn plötzlich waren nicht mehr staubige Straßen in einem Teil der Erde, zu dem wir keinerlei Verhältnis haben, Schauplatz der Gewalt, sondern Paris. Eine Stadt, die man kennt, in der unsere vernetzte Generation Freunde und Bekannte hat, in der man schon war. Kurz: mit der man etwas verbindet. Ein Europa, das weit, weit weg von Kriegen ist. Ein Europa der Elektro-Klubs, Bio-Burger-Läden und iPhones.
Angst durch Nähe
Paris hat uns gezeigt, dass Europa keineswegs ein von einer undurchdringbaren Kuppel geschütztes Paradies des Flirtens, Studierens und Spaßhabens ist, sondern ein Kontinent, der genau so Schauplatz werden kann wie Afrika oder Asien. Und mehr noch: dass Europa nicht nur Schauplatz werden kann, sondern geworden ist und wieder werden wird, da die westliche Kultur zum Ziel des IS geworden ist.
Dass Angst vor Krieg, sprich das Vom-Krieg-Berührtwerden, eng mit der Nähe der Gewalt zusammenhängt, bestätigt Professor Dr. Ulrich Bröckling von der Universität Freiburg, wo er Soziologie lehrt. „Trotz der Globalisierung und obwohl man heute schneller reisen kann als jemals zuvor, entsteht Angst vor Krieg erst, wenn dieser einem in seinem eigenen Leben zu nahe kommt. Das kann heißen, dass er direkt in unserem Zuhause stattfindet, das kann aber auch heißen, dass er in unseren Kulturkreis eindringt und wir so das Gefühl der Sicherheit verlieren“, so Bröckling.
Und genauso erleben wir es im Freundeskreis. War Krieg lange Zeit höchstens ein Thema, wenn ein besonders schlimmer Anschlag stattgefunden hatte oder in Syrien besonders viele Menschen gestorben waren („Hast du schon gehört?“), hört man jetzt in Deutschland immer öfter den Satz: „Ich habe Angst.“ Und das gilt für unsere Generation mehr als für alle anderen. Denn unsere Großeltern-Generation hat den 2. Weltkrieg noch miterlebt und die Nähe zu dieser Thematik an unsere Eltern-Generation weitergegeben, die durch RAF-Terror Gewalt im eigenen Land miterlebte.
Bleibt der Krieg in unserem Bewusstsein?
Wir aber haben eine ungeheure Distanz zu Kriegen aller Art entwickelt, da wir im Gefühl der absoluten Sicherheit aufgewachsen sind und die Fernsehbilder der ständigen Toten weit entfernt vom eigenen Leben verortete. Das ständige Wiederholen im Geschichtsunterricht der Hitler-Zeit hat meist eher das Gegenteil des vom Lehrkörper Gewollten bezweckt: Genervtheit. Zusätzlich sterben langsam aber sicher die letzten Zeitzeugen. Krieg in Deutschland ist dann etwas Vergangenes, das man nur noch mit Dokumentationen zum Leben erwecken kann. Durch die Anschläge von Paris, durch den verhinderten Terror-Anschlag in Hannover aber ist die Glaskuppel weggesprengt worden, Verwundbarkeit ist kein abstrakter Begriff mehr.
Natürlich ist es weder hilfreich noch angebracht, nun ständig Panik zu haben und nicht mehr ohne Angst feiern zu gehen. Eine veränderte Sicht gegenüber dem Krieg ist aber gerade dabei, sich als fester Teil unserer Generation zu etablieren. Und das, obwohl schon seit Jahren Krieg ständiger Heimsucher der Welt, in der wir erwachsen wurden, ist. „Gerade weil die Menschen zwischen 20 und 30 Jahren Gewalt und Krieg in den Medien gewohnt sind seit dem 11. September, verbreitet Krieg keine Angst mehr. Es entsteht beim Ansehen der Bilder eher eine Art Mitleid, stark verknüpft mit einem tief verwurzelten westlichen Sicherheitsgefühl.“ Bröcklings Worte Worte machen einen traurig. Denn es wird einem bewusst, wie egoistisch das eigene Denken all die Jahre war. Abertausende Tote haben einen kalt gelassen und 130 Tote in Paris gebären Angst und bringen das Thema Krieg plötzlich auf ganz andere Weise ins Bewusstsein.
Ob Paris unsere Generation nachhaltig verändern wird oder ob in einigen Woche eine neue, fragilere Glaskuppel über Westeuropa gezogen wird, bleibt abzuwarten. Als am Dienstag Deutschland von der Meldung von rund 25 Toten bei schweren Gefechten in Homs erreichte, war sie jedenfalls wieder da, diese Reaktion: das Empfinden großer Distanz, gepaart mit Mitleid, die eigene Sicherheit nicht beeinträchtigt. „Unglaublich, was in der Welt passiert“, sagte eine Freundin zu mir, als die tagesschau die Bilder über den Bildschirm flackern ließ. Was sie wohl eher meinte: Unglaublich, was in diesem Teil der Welt, weit weg von uns, passiert. Bei uns wäre so etwas undenkbar. Denn genau so denkt unsere Generation über Krieg. Vor Paris. Und allmählich auch danach wieder.
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Bild: Anubhav Saxena unter CC0