Ein Hobbithaus

„Herr der Ringe“-Serie von Amazon: Ist der Cast nicht divers genug?

Der Ursprung von Geschichten

Beschäftigen wir uns zuallererst einmal mit dem Herrn der Ringe-Kosmos und Tolkien in ihren Grundzügen:

J.R.R. Tolkien lebte von 1892 bis 1973, war Professor für englische Sprachwissenschaften an der Universität Oxford, Schriftsteller und Philologe. Er erfand eigenhändig mehrere Sprachen, darunter das auf dem Finnischen basierende Quenya und Sindarin, welches sehr auf das Walisische zurückgreift. Beide Sprachen nutzte er für das Volk der Elben, welches Teil des von ihm erschaffenen Mittelerde ist: Einem Kosmos, zu dem Der Herr der Ringe, Der Hobbit und das Silmarillion gehören.

Für seine Vision bedient sich Tolkien aus seinem Umfeld: Trolle, Zwerge, Elben, Drachen – das sind alles Elemente, die er aus nordischen, keltischen und anderen Mythologien zusammengetragen hat. Mittelerde ist überwiegend ein Amalgam, eine Verschmelzung von Geschichten und Motiven aus der näheren Umgebung seiner Heimat.

Sein Wunsch: „So wie Deutschland, Griechenland oder Skandinavien ihre eigene Mythologie und Sagenwelt haben, so solle auch England seine eigene bekommen“. Tolkien ging sogar so weit, dass es sich eigener Aussage nach bei seinen Geschichten nur um die doch sehr realen Aufzeichnungen der Protagonisten handelt, die er aus dem Elbischen übersetzte: Aufzeichnungen, die er im „Red Book of Westmarch“ gefunden habe, über welches er durch Zufall gestolpert ist. Damit ist Mittelerde quasi ein pseudo-historisches Kapitel der Geschichte Englands.

Das ist natürlich ein Extrembeispiel, es zeigt aber sehr gut die Diskrepanz zwischen Storytelling und etwaigen Diversitätsansprüchen: Wenn Mittelerde nämlich eine glaubhafte, archaische Version Großbritanniens ist, dann ist da, ganz nüchtern und (pseudo-)historisch gesehen, nicht viel Platz für Diversität. Die Menschen an diesem Ort zur damaligen Zeit wären eben zum sehr großen Teil weiße Europäer gewesen. Story-technisch könnte man sich sicher etwas einfallen lassen und Ludi Lin zu Gute muss man auch erwähnen, dass er sich für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Quellmaterial ausgesprochen hat. Doch hierin liegt eben auch ein Problem, denn ein „verantwortungsvoller“ Umgang bedeutet für jede*n etwas anderes. Ein perfektes Mittelmaß dafür gibt es nicht.

Stell dir im Vergleich dazu eine Version von der chinesischen Heldin Mulan vor, bei der unabhängig von der Herkunft und dem äußerem Erscheinungsbild gecastet wird: Wäre das noch ein verantwortungsvoller Umgang, wenn die Geschichte dahingehend verändert oder erweitert würde?