Lucy, 24, trägt jetzt eine Glatze

Den Wunsch, keine Haare mehr zu haben, hatte Lucy zum ersten Mal als sie ungefähr 10 Jahre alt war. Als sie damals in den Spiegel schaute, sah sie nur eine struppige Mähne aus unbändigem Haar – das so gar nicht dem von ihr sich vorgestellten Schönheitsideal entsprach. Mit strengen Frisuren und verschiedensten Haarkuren versuchte sie ihren Wuschelkopf unter Kontrolle und in Form zu bringen. Es half nichts. Dann sah sie zufällig einen Film über ein krebskrankes Mädchen. „Das sieht ja gar nicht so dumm aus, wie ich mir das immer vorgestellt habe“, dachte sie sich damals. Die Idee, kurzen Prozess mit ihren Haaren zu machen, sollte aber noch eine ganze Weile in ihr reifen – bis heute. Vor zwei Wochen, wagte sie einen Undercut – und das war der Startschuss: „Ich habe mir immer an die rasierte Stelle gefasst und mich irgendwie total damit angefreundet. Da wusste ich, ich bin bereit.“

 

„Jetzt erst recht“

Scheisse, wird mein Selbstbewusstsein das verkraften? Verliere ich meine Selbstsicherheit? Wird sie sogar gestärkt? Fühle ich mich danach wie ein Junge? Bin ich dann noch attraktiv? Lucy gingen viele Fragen durch den Kopf, aber der Entschluss stand fest. Sie wollte es endlich durchziehe: „Mir war wichtig, dass ich es selber mache. Als dann alles weg war, war mein erster Gedanke: Yes, sieht gar nicht so schlecht aus!“ Und tatsächlich sehen das bis jetzt fast alle so: „Die Reaktionen aus meinem Freundeskreis und an der Uni waren sehr positiv. Sie gratulierten mir zu meinem Mut und bewunderten die Entscheidung. Das hat mich unglaublich gefreut und ich fühle mich total unterstützt.“

Lucy rechnet aber auch mit negativen Kommentaren: „Davor habe ich schon Schiss. Ich mache mich schließlich auch total verletzlich.“ Der erste, der nicht begeistert ist, ist Lucys Großvater: „Mein Bruder hat sich auch seine schulterlangen Haare rasiert. Bei ihm fand er es okay, bei mir nicht. Das sei für Frauen einfach nicht normal, meinte er. Da werde ich ihm schon das Gegenteil beweisen!“ Dass es auch außerhalb der Familie einige Beziehungen auf die Probe stellen wird, ist Lucy bewusst. „Wenn Menschen oder Freunde gemein oder unverständlich reagieren, wird das schon eine Herausforderung sein. Ich möchte doch den Leuten nahe sein, die mich unterstützen, die mich kennen und die vor allem meinen Wert teilen, Menschen nicht direkt nach dem Äusseren zu beurteilen. Ich bin ja immer noch ich. Jetzt sogar erst recht“, erklärt Lucy.

 

„Die ist bestimmt lesbisch“

Es ging darum selbst zu entscheiden. Um Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit. Darum, sich selbstbewusst dem Druck von Schönheitsidealen zu entziehen. „Es war nie meine Entscheidung lange Haare zu tragen. Die waren einfach irgendwie immer da, immer buschig und ungeliebt, so lang wie sie halt gerade waren. Die Glatze zu rasieren war komplett meine Entscheidung, mein Handeln und mein Ziel. Und das fühlt sich so gut an.“ Und es ist auch eine Loslösung von allem was in unserer Gesellschaft mit langen Haaren konnotiert wird. Lucy ist jetzt nur noch sie, nur noch ihr Gesicht. Nicht mehr die blonde Frau, die sie nur wegen der Norm war. „Ich wollte entdecken, wer ich bin und wie ich entscheide, ganz unabhängig von Sozialisierung und Trends. Ich habe mir eine Freiheit genommen, die wir eigentlich alle nützen könnten, um uns von Stigmatisierung und Vorurteilen zu lösen.“

Aber wie blonden, langen Haaren einen Ruf voraus eilt, werden auch bei einer Frau mit Glatze voreilige Schlüsse gezogen, wie Lucy bereits erfahren hat: „Ich höre Sachen wie ‚die studiert bestimmt Soziologie‘ oder ‚die ist doch lesbisch‘. Die Menschen sind eingeschüchtert, sie erwarten eine radikale Haltung, irgendeinen Männerhass. Dabei war meine Entscheidung losgelöst von politischen Statements. Natürlich will ich mich gegen Gendernormen und Klischees wehren. Aber durch die Glatze fühle ich mich keiner Bewegung angehöriger. Was ich merke, ist, dass dieser Schritt ein enormes Potenzial in mir freilegt. Das Wissen: Ja, ich bin mutig! Ja, ich bin stark und selbstbestimmt! Das ist genau das, was ich wollte.“

 

„Meine Glatze ist ein leeres Blatt“

„Einfach verdammt kalt ist es, so ohne Haare“, sagt Lucy und lacht. Sie trägt jetzt immer entweder eine Mütze oder bunte Tücher um den Kopf. „Meine Glatze ist ein leeres Blatt, das ich bemalen kann. Im tatsächlichen, wie im übertragenen Sinn. Ich will noch herausfinden, was genau das für mich bedeutet und wie das aussehen wird. Ich will aber auch lernen, mit dieser Nacktheit zu leben und das Blatt vielleicht einfach mal leer lassen.“

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Bildquelle: privat