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Männer und ihre Mütter: Wenn zu viel Nähe zu Flucht führt

Es war, als würde ich mir selbst in die Augen schauen. Die gleiche Farbe, die gleiche Umrandung der Pupille. Draußen wirbelte der Herbst bunte Blätter durcheinander und ließ die Menschen ihre Mantelkrägen hochschlagen. Drinnen saß ich mit einer Frau am Tisch, die mich traurig ansah. Zwar auch mitfühlend, aber dennoch unverkennbar traurig. Ich musste wegsehen, schlucken. Ich dachte, dass wir auseinander geweht worden waren wie die Blätter draußen, die rotierten wie kleine winzige gelbe Hubschrauber. Und ich dachte, dass das unendlich traurig war. Denn die Frau, die mir da gegenüber saß, war meine Mutter. Traurig, dass ihr Sohn ihr nichts mehr erzählte und wie ein Fremder in dieser Wohnung dasaß, sie nicht ansehen konnte und stattdessen lieber in den peitschenden Herbstregen raus sah.

Jahre vorher war das ganz anders gewesen. Ich war ihr kleiner König. Sie holte mich von Partys ab, machte mein Lieblingsessen nach meinen Fußballspielen. Meine Mama redete mit mir darüber, als ich mich zum ersten mal verliebt hatte. Sie war immer da. Und ich erzählte ihr ganz selbstverständlich fast alles, was mich bewegte. Eigentlich alles, das ich meinen Lebensinhalt nannte.

Zu viel Nähe führt zu Flucht

Und eben das wurde zum Bumerang. Jedenfalls bei mir. Mit 16 war die Reaktion auf permanentes Fragen von der Mama und auf das ständige Suchen des Gesprächs der totale Rückzug. „Wie war es gestern auf der Feier?“, fragte sie. „Gut“, antwortete ich. „Wie geht es dir?“, fragte sie. „Gut“, antwortete ich. „Wie war es in der Schule?“, fragte sie. „Gut“, antwortete ich. Dabei war in turbulenten Pubertätszeiten zwischen Schule, Bier am See, allerhand Verbotenem und zwei Mädchen, die ich beide toll fand, freilich nicht alles gut. Ich sprach es nur nicht mehr an. Denn Mama schien das noch nicht so ganz gecheckt zu haben, dass man längst mehr Mann denn Kind war und dass zu häufiges Überschreiten der natürlichen Grenze, die man parallel zur Persönlichkeitsbildung zu den Eltern zieht, Flucht zur Folge hat.

Ich zog direkt nach dem Abi aus. Und da hat man so viele andere Dinge im Kopf als die Besinnung auf genau das: dass diese Frau, die da vor die steht, deine Mutter ist und dass sie dein Lebensmittelpunkt war. Und dass es sich für sie ganz anders anfühlt als für dich. Dass es sie verletzt, wenn du selten anrufst und wenn sie merkt, dass die Nähe irgendwo in den Monaten vor dem Abi verloren gegangen ist.

Denn man lebt plötzlich sein Leben. Man schwänzt die Uni. Man kann nachts Lärm machen. Man muss keine Stellung beziehen zu all dem Destruktiven, das man macht. Man darf ohne Jacke rausgehen, ohne ein „Du erkältest dich noch“ und kann danach mit Erkältung im Bett liegen – ohne ein „Hör‘ doch mal auf deine Mama.“ Es ist wunderbar. Man fühlt sich so erwachsen, auch wenn man das natürlich noch lange nicht ist. Denn Sangria aus Eimern zu trinken, das Konto zu überziehen und FIFA mit den Kumpels zu zocken, anstatt für die Prüfung zu lernen, die schon in drei Tagen ist, ist das Gegenteil von erwachsenem Verhalten. Das Gute daran: Es fühlt sich trotzdem so an, weil du ganz alleine diese Entscheidungen triffst.

Langer Weg zur Erkenntnis

Und die Mutter? Die lässt man natürlich im Glauben, alles im Griff zu haben. Das ist bei meiner Schwester ganz anders. Hat sie ein Problem, egal ob ein finanzielles, eines in der Uni oder eines mit ihrem Freund, werden die Eltern als Ratgeber hinzugezogen. Jungs dagegen erzählen den Eltern und gerade der immerzu besorgten Mutter das, was wovon sie denken, es würde die Mama, die da im nun kinderlosen Haus sitzt, beruhigen. Man räumt die Wohnung nie wieder so gut auf wie beim Besuch der Eltern. Man postet ab und zu ein Foto in die WhatsApp-Gruppe der Familie, das einen beim Lernen zeigt. Wilde WG-Partys, stundenlanges Im-Park-Liegen oder heftiger Frauen-Stress? All das enthält man der Mama vor. Weil man sie schützen will und sich selbst auch.

Man wird älter, checkt irgendwann, dass es ja ganz nett ist, an einem Sonntag erst um 6 Uhr morgens nach Hause zu kommen, dass da aber ein Leben vor einem liegt, das mehr ist als nur verantwortungsloses Um-die-Häuser-ziehen. Und man checkt, dass es für die Mutter nichts schöneres gibt als wenn der Sohn sie in sein Leben lässt. Und dass sie eben mehr ist als eine immer besorgte Frau, der man die Wahrheit nicht zumuten kann.

Man versteht, dass auch ihr Leben sich verändert hat. Dass sie eigene Wünsche pflegt, Träume, Angst, Hoffnungen. Das sie so viel zu erzählen hat, dass du so viel von ihr lernen kannst. Weil sie selbst diese Phasen hatte, von denen man irgendwie immer denkt, die Eltern hätten sie einfach übersprungen. Man begreift, dass da diese eine Frau ist, die einem das Leben geschenkt hat. Dass man nur diese eine Familie hat und nur dieses eine Leben. Und dass die Zeit mit der Mama endlich ist. Genau das wurde mir klar, als ich mit meiner Mutter in der Küche saß, der Herbst die Blätter zum Tanzen brachte und der Regen in feinen Schlieren das Fenster hinunterlief.

Das Teilen des gegenseitigen Glücks

Es ist ein glasklarer kalter Spätoktobertag. Die Sonne taucht alles in warmes Licht, vermag aber nicht, gegen die Kälte anzukommen. Ich sitze mit meiner Mama auf einer Bank, wir machen Brotzeit und frieren zusammen. Und wie wir da so sitzen und zusehen, wie sich die Sonne in den Fenstern der Häuser unter uns spiegelt, muss ich daran denken, wie viele Mütter da unten sind. Die ihre Söhne verloren haben, weil die sich nicht mehr öffnen und verschlossen bleiben wie ein dickes Tor.

„Wie geht es dir?“, fragt Mama und trinkt einen Schluck Apfelschorle. Und ich beginne zu erzählen. Von meinem Leben. Mitsamt dem Chaos, der Probleme, der Zweifel. Sie hört zu, wir lachen und sind im nächsten Moment ganz ernst. Sie sagt kluge Sachen. Keine Sorge von ihr, kein Urteil. Denn auch sie hat in der Zeit der gegenseitigen Ferne verstanden, dass es mein Leben ist, dass ich selbst meine Entscheidungen machen muss. Seit dem Sitzen in den Sonnenstrahlen schreibe ich ihr öfter als zuvor. Ich treffe sie häufig gemeinsam mit ihrem neuen Freund. Denn das ist ihr Leben und genau so wie sie hofft, dass ich sie in meines lasse, macht es sie glücklich, wenn ich in ihres trete. Denn dieser Mensch, der die gleichen Augen hat wie ich, ist mir wichtig. Ich liebe ihn. Das weiß ich heute. Und kaum eine Erkenntnis hat mich glücklicher gemacht in all der Zeit nach dem Auszug aus der mütterlich geprägten Umgebung als diese.