Ausgrenzung beschäftigt viele Menschen

Gruppenzugehörigkeit: Die Marionetten der FOMO

Am Montag geht die Uni wieder los. Der Startschuss ist gefallen, der Wettlauf beginnt. Das Rennen um neue Bekanntschaften, Freund*innen, Zugehörigkeit. Ich finde das immer unheimlich anstrengend und habe gehofft, dass das irgendwann aufhört. Aber das wird es wohl nie.

Viele neue Gesichter stehen in einem Raum. Alle sehen irgendwie gleich aus, ein Gesicht kann man sich trotzdem nicht merken. Es läuft laute Musik, während die Gäste der Party beginnen zu tanzen. Jede Person hat sich vermutlich zwei Stunden überlegt, was sie anziehen soll, wie sie auftreten soll, um zu gefallen. Denn sie sind hier, um zu connecten. Ich finde das Wort schlimm und ich finde schlimm, was es dem Grunde nach bedeutet: So viele Leute wie möglich kennenlernen, oberflächliche Fragen abgrasen und trotzdem niemals zum Kern kommen. Dinge sagen, die man eigentlich nicht meint und über Witze lachen, die man nicht lustig findet. So sind natürlich nicht alle. Was aber alle eint, ist der Wunsch, irgendwo dazuzugehören. Aber wieso ist das eigentlich so?

Der Mensch ist ein soziales Wesen, sein Hauptbedürfnis ist es, nicht isoliert zu sein. Gruppen sind für die persönliche Entwicklung elementar. Das zeigt der Fall Kaspar Hauser. Im Jahr 1828 tauchte der 16-jährige Junge in Nürnberg auf. Er redete kaum und wirkte geistig zurückgeblieben. Kaspar Hauser behauptete, dass er völlig allein in einem dunklen Verlies aufgewachsen sei. In sogenannten Kaspar-Hauser-Experimenten isolieren Wissenschaftler*innen junge Tiere von ihren Verwandten, um mögliche Auswirkungen auf ihr Verhalten zu untersuchen. Die Experimente bestätigen die Folgen sozialer Isolation: Ohne Kontakt zu anderen, entwickelten Primaten schwerwiegende Entwicklungsstörungen. „Teil einer Gruppe zu sein ist für die Identitätsfindung – Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? – bedeutsam“, erklärt der Soziologe Matthias Grundmann. „Es vermittelt uns außerdem das Gefühl der sozialen Einbindung und der Unterstützung durch andere.“

Von FOMO, Secret Partys und anderen Absurditäten

Möchte man unbedingt zu einer Gruppe gehören, muss man jedoch aufpassen, sich selbst nicht zu verlieren. Vor einem Jahr habe ich ein Auslandsemester in Norwegen gemacht. Die Gruppenbildung habe ich noch nie so schlimm wahrgenommen. Es war kurz nach Corona, alle wollten etwas erleben, hatten hohe Ansprüche. Die FOMO hatte uns alle fest in ihren Händen und hat uns zu ihren Marionetten gemacht. Ständig war etwas: Ob Fest, Sportveranstaltung oder Kaffee trinken. Absagen kam nicht in Frage, denn wenn man einmal keine Präsenz zeigte, konnte man damit rechnen, dass man bei der nächsten Einladung vergessen wurde. Es war wie ein Wettstreit – teilweise verstellten die Leute sich komplett, um zum Gegenüber zu passen. Prinzipien wurden über Bord geworfen, Absprachen nicht mehr gehalten, Freund*innen vergessen. Aber wenigstens gehörte man jetzt zur Gruppe. Mein Highlight war, als eine Gruppe von Leuten begann, sich von den anderen abzuschotten. Sie verstanden sich als „Die Coolen“, veranstalteten Secret Partys, zu denen nicht jeder kommen durfte. Den Ort verrieten sie auch nicht – nicht, dass jemand vorbeischaute, der ihrer nicht würdig war.

Ausgrenzung muss nicht bewusst passieren. Oft kann sie auch unbewusst sein – ganz ohne böse Absicht. „Die Ursachen, warum Menschen andere ausgrenzen, sind vielfältig“, erklärt die Sozialpsychologin Selma Rudert. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit dem Phänomen der Ausgrenzung. Ihre Forschung zeigt, dass Ausgrenzung oftmals gezielt eingesetzt werde, um eine Person für ihr Fehlverhalten zu bestrafen oder sie fernzuhalten. Soziale Ausgrenzung könne aber auch auf eigenen Unsicherheiten beruhen oder rein versehentlich vorkommen.

Die unüberwindbare Kluft der Sofa-Reihe

Versehentlich habe ich Ausgrenzung bisher eher selten wahrgenommen. Gruppenbildung und Ausgrenzung hat meiner Erinnerung nach schon im Kindergarten begonnen. Ich hatte damals zwei beste Freundinnen. Ich und das andere Mädchen wurden abwechselnd von „Der Bestimmerin“ ausgeschlossen und gegeneinander ausgespielt. So lief es dann auch in der Grundschule und in den ersten Jahren des Gymnasiums. Sätze wie „Nichts gegen dich, aber ich mag andere mehr als dich“ standen auf der Tagesordnung. Ich wurde von „Der Bestimmerin“ dann gemocht, wenn ich ihr einen Vorteil verschaffte. Auch meine beste Freundin wurde von ihr ausgegrenzt. „Es gab Tage, an denen habe ich mich nicht in die Schule getraut“, hat sie mir erst letztens erzählt. Damals dachten wir, ausgeschlossen zu werden, würde das Ende der Welt bedeuten.

Jetzt, 10 Jahre später, kann ich sagen: Die Erde hat sich weitergedreht. Die Ausgrenzung blieb aber ein Teil von ihr. Sie wurde weniger subtil und bösartig, aber sie blieb. In der Oberstufe hatten wir einen Aufenthaltsraum. In der Mitte des Zimmers stand eine Reihe an Sofas, die es in zwei Hälften getrennt hat. Die einen sind IMMER auf die linke Seite des Raums gegangen. Meine Gruppe saß AUSSCHLIEßLICH auf der rechten. Mit jemandem von der anderen Seite zu sprechen kam nicht in Frage. Ich glaube, ich könnte heute noch sagen, wer aus meiner Klasse zu welcher Seite des Raums gehörte.

Auch in der Uni haben sich schnell viele kleine Gruppen gebildet. Dass sich Freundescliquen ergeben, ist natürlich normal und dem Grunde nach auch nicht verkehrt. Aber bei uns waren die Gruppen so geschlossen, dass wir auf der Abschlussfeier von unserem Bachelor nicht einmal etwas zusammen gemacht haben. Es gab keine gemeinsame Party und kein freundschaftliches Anstoßen. Wir waren weniger als 40 Leute im Studiengang, ein gemeinsames Treffen wäre sicherlich kein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Als eine Freundin andere fragte, ob wir uns alle nicht später treffen wollen, sagten sie, sie hätten keine Lust. Keine Zeit, keinen Nerv. Kleiner Spoiler: Sie saßen ein paar Stunden später zwei Tische neben uns in derselben Bar.

Sind wir irgendwann zu alt dafür?

Am Montag beginnt der Master und ich bin gespannt. Gespannt, ob sich an dem panischen Gefühl, ausgegrenzt zu werden, etwas geändert hat. Ob man vielleicht irgendwann aus dem Alter raus ist. Ob sich die Gesetze der Gruppe nicht doch mit zunehmendem Alter lockern. Und wer weiß, vielleicht passiert dann ja mal so etwas verrücktes, wie dass man jemandem aus einer anderen Gruppe Hallo sagt.

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Bildquelle: Markus Spiske von Pexels; CC0-Lizenz