mobbing

Eine Hänselei zu viel: Wenn man selbst nicht wahrnimmt, dass man andere mobbt

…und niemand hat was gewusst

Ich erinnere mich noch genau an diesen Freitag, als unser Englisch- und gleichzeitig Klassenlehrer Herr Michels den Raum betritt, sein sonst so freundliches Gesicht liegt in tiefen Falten. Die Hände zittern etwas, das im Klassenchor vorgetragene „Guten Morgen, Herr Michels“, honoriert er mit einem hastigen Nicken. „Leute, bevor wir anfangen, muss ich Euch was sagen.“ Gespannte Gesichter im Rund, Nico, der neben mir sitzt, schaut mich fragend an. „Euch ist ja sicherlich aufgefallen, dass Martin heute nicht da ist. Seine Mutter hat mich heute Morgen informiert, dass er in eine psychiatrische Einrichtung eingeliefert wurde – und Andeutungen gemacht, dass einige von Euch mit ihrem Verhalten einen erheblichen Teil dazu beigetragen hätten, dass es ihm schlecht geht und er nicht mehr zurückkehren wird. Habt Ihr mir irgendwas zu sagen?“

Betretenes Schweigen. Isabelle hält sich die Hand vor den Mund, die Augen vor Schock weit geöffnet. Stefan kaut an seinen Nägeln, so wie er es immer macht, wenn er nervös ist. Eine gefühlte Ewigkeit sagt niemand etwas, bevor Leon, der Klassensprecher, das Wort ergreift und mit unsicherer Stimme sagt: „Also, ich denke, ich kann hier für alle sprechen und sagen, dass wir damit nichts zu tun haben. Jeder hier ist schon mal gehänselt worden. Ich werde auch ständig aufgezogen, weil meine Ohren abstehen. Das tut zwar manchmal weh, aber ich lasse das nicht so sehr an mich ran.“

Einige nicken zustimmend, einige schauen mit leerem Blick aus dem Fenster. Ich versinke in Gedanken, merke wie sehr mich das Ganze mitnimmt und werde plötzlich von Schuldgefühlen geplagt. Ja, vielleicht haben wir Martin im Sport aufgezogen, aber so sehr, dass er nun an Depressionen leidet, „jeden Morgen Angst hat, seinen Schulweg anzutreten“, wie Herr Michels in seinem Monolog erklärt? In der Pause stehen wir in den üblichen Gruppen zusammen und diskutieren über die Nachricht.

„Wie geht’s eigentlich deiner Mama?“

„Ich hab‘ schon immer gesagt, der Dicke hat einen an der Klatsche“, sagt Marcel. „Hast du nicht, du Penner“, lacht Gerald. „Wenn ich Gerald heißen würde, dann würde ich mal die Fresse halten. Wie geht’s eigentlich Deiner Mama, die war gestern ganz schön widerspenstig, als ich bei ihr war…“ „Ernsthaft?“, frage ich. „Uns wurde vor nicht mal einer Stunde mitgeteilt, dass wir einen unserer Mitschüler in die Psychiatrie getrieben haben und ihr habt nichts Besseres zu tun, als Scheiße zu reden?“ Ich reiße die Tür zur Jungs-Toilette auf und betrachte mich im Spiegel. Immer wieder frage ich mich, was mich so weit treiben würde, einen derartigen psychischen Knacks zu bekommen – und finde keine Antwort.

Eine Geschichte, die sich so oder so ähnlich an jeder Schule in Deutschland abspielen dürfte. Damals, 2002, in Zeiten, in denen Begriffe wie Cyber-Mobbing noch gar kein Thema waren, weil das Internet noch nicht seine volle, seine diesbezüglich brutale Wirkung entfaltet hatte, wurde das mittlerweile wieder zurecht aufkochende Thema kaum behandelt.

Die Kunst des Verdrängens

„Mobbing ist einer der zentralen Risikofaktoren für das Auftreten nicht nur psychischer Erkrankungen, sondern auch von selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität im Kindes- und Jugendalter“, erklärt Michael Kaess, Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Heidelberger Uniklinikum gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Es ist allerdings auch obligatorisch, dass sich mit eben jener Problematik auseinandergesetzt wird. Bei uns wurde das Thema nach ein paar Wochen totgeschwiegen, Lehrer und Schüler kehrten schnell zur Normalität zurück, der Alltag des sich gegenseitigen Ärgerns hatte uns wieder – als sei nie etwas gewesen. Von Martin sprach niemand mehr, ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Heute schäme ich mich dafür, nicht nachgehakt zu haben, kein Interesse an seinem Heilungsverlauf gehabt zu haben, schäme mich vor allem, weil auch ich zu denjenigen zählte, die für schlimme Depressionen eines jungen Menschen mitverantwortlich waren.

Sicherlich gibt es schwerwiegendere Fälle als das von mir Erlebte, sicherlich haben viele Schüler noch vielschichtigere Probleme, als im Sportunterricht keine gute Figur abzugeben. Allerdings geht jeder Mensch anders mit Veralberungen um. Was der eine als spöttischen, harmlosen Spruch interpretiert, löst beim anderen größtmögliche Selbstzweifel aus. Sich dessen bewusst zu werden, sich die ein oder andere Äußerung zu verkneifen, sensibler mit seinen Mitmenschen umzugehen, ist ein fortwährender Lernprozess. Traurig nur, dass ich meine Lektion erst gelernt habe, als es bereits zu spät war.

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Bildquelle: Toa Heftiba unter CC0-Lizenz