Nauru: Wenn Profit vor Menschlichkeit geht
Schon aus der Luft wirkt Nauru niedlich. Eiförmig taucht die Koralleninsel mitten im Pazifischen Ozean auf: Flächenmäßig ist Nauru der drittkleinste Staat der Erde. Tatsächlich gab es eine Zeit, als für die knapp 10.000 Bewohner das Leben süß war und dessen Sonnenseite parallel mit der realen Sonne auf die winzige Insel schien.
Denn in den Siebzigern und Achtzigern waren die Jahre des Leids unter der Herrschaft Deutschlands, das Nauru im 19. Jahrhundert annektiert hatte, und Australiens, das sich den Großteil der Gewinne des Phosphatabbaus sicherte, vorbei. Plötzlich schwamm man im Geld, nachdem man 1968 die Unabhängigkeit von Australien erlangt hatte. Nauru wurde zum Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Es entstand eine inseleigene Fluggesellschaft, eine eigene Reederei. Man investierte und ein Hauch von Dolce Vita wehte über den kleinen Fleck im Pazifik.
Heute wirkt die Insel genau so friedlich wie in der goldenen Zeit von damals. Auch heute hat die Szenerie einen Hauch von Traumurlaub. Der Sand ist genau so fein wie früher, das Meeresrauschen begleitete noch immer Tage und Nächte. Dennoch täuscht die Idylle. Die Phosphat-Bestände sind längst aufgebraucht, die Insel ist pleite. Nauru ist nicht mehr das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen, sondern das mit der höchsten Quote an Diabetikern.
Die westlichen Einflüsse haben den Zwergen-Staat zum dicksten Land der Erde gemacht, vom süßen Leben auf einer Insel mit Traumstränden ist kaum noch etwas übrig. Die Politik hat Jahre des Kampfes hinter sich, Korruption und Perspektivlosigkeit für die vielen Jungen prägen das Bild.
Das alles ist deshalb wichtig, weil nur so verstanden werden kann, wie es zu den schockierenden Zuständen kommen konnte, die in den beiden Flüchtlingsauffanglagern herrschen – und wie es dazu kam, dass man auf einer nur etwas über 20 Quadratkilometer großen Insel überhaupt Geflüchtete aufnahm.
Staatsinteresse vor Menschlichkeit
Von vorne. 2001 verweigerte Australien Flüchtlingen aus Afghanistan, australischen Boden zu betreten. Es waren dramatische Szenen, die Marine kaperte das Schiff mit dem Namen MS Tampa. Der Grund: Setzt ein Flüchtling, der über den Seeweg kam, einen Fuß auf australischen Boden, erfolgt eine automatische Asylprüfung. Weltweit löste die Weigerung Australiens Proteste aus, der UN-Generalsekretär geißelte das Verhalten in einer Rede.
Sechs Tage, nachdem die MS Tampa vor der australischen Küste aufgetaucht war, präsentierte der damalige Premierminister die sogenannte Pazifische Lösung, die vorsah, Flüchtlinge „vorübergehend in Neuseeland und auf Nauru unterzubringen.“ Und genau hier wird die anfangs geschilderte Situation wichtig. Denn Australien bezahlt dafür mit Steuergeldern, insgesamt sind es 1,2 Milliarden Euro im Jahr.
„Für Nauru tat sich plötzlich eine Einnahmequelle auf“, sagt Ben Doherty, Journalist beim Guardian, gegenüber ZEITjUNG. „Die Menschen, die ihre Heimat verlassen hatten, standen nicht im Fokus, sondern staatliche Interessen. Die Australiens, das sich freikaufen konnte, und die Naurus, das plötzlich die Chance sah, große Einnahmen gegen geringen Aufwand zu generieren. Das ist der eigentliche Skandal. Und der Grund für das, was passiert ist.“
Das, was passiert ist, sind Dinge, die Doherty selbst als Teil eines investigativen Teams aufgedeckt hat. Der Guardian leakte 8000 Seiten an Material, das Berichte des Wachpersonals der beiden Auffanglager in Nauru enthält, die seit der Eröffnung 2001 vor allem Afghanen, Iraker, Syrer und Sri Lanker beherbergen. Die Dokumente erfassen den Zeitraum von Mai 2013 bis Oktober 2015, also die Zeit nach der Wiedereröffnung der Lager 2012, die erneut weltweit Kritik erntete. Sie bringen systematischen Missbrauch ans Licht, sexuelle Übergriffe, Demütigung und Selbstverletzungen. Besonders Kinder leiden unter den skandalösen Zuständen.
Umdenken? Fehlanzeige!
Schreibt man die Inhalte der Augenzeugenberichte nieder, fällt es einem schwer, das Leid zu begreifen. 2014 etwa sei ein Mädchen mit zugenähten Lippen durch das Lager gelaufen und dabei von Aufsehern ausgelacht worden sein. Im gleichen Jahr soll ein anderes Mädchen, jünger als zehn Jahre, Aufseher zu expliziten sexuellen Handlungen aufgefordert haben.
„Es herrscht zum einen ein akuter Mangel an psychologischer Betreuung. Auf engstem Raum leben Menschen mit verschiedensten Traumata zusammen“, so Doherty. „Zum anderen fehlt es an ausgebildetem Wachpersonal. Es ist schockierend zu sehen, dass sich fast nichts ändern wird. Denn Nauru ist nurmehr ein Problem für die Regierung.“ Die hat nach dem Guardian-Artikel lediglich konstatiert, man werde die Vorwürfe prüfen – und dass die Auslagerung von Flüchtlingen generell nicht falsch sei. Ein generelles Umdenken in der Flüchtlingspolitik? Fehlanzeige!
„Schlimm ist, dass Nauru in Europa auch weiter keinem ein Begriff ist. So handelt man wie die Regierung. Man verschließt die Augen und lässt die Menschen auf der Insel in Vergessenheit geraten“, sagt Doherty. „Es geht dabei nicht nur um die Menschen und das Leid, sondern um den generellen Umgang mit Werten. Indem man Flüchtlinge diesen Schikanen aussetzt, löst man keine Probleme. Indem man sein Land abschottet, noch weniger. Anstatt gemeinsam zu versuchen, das Beste aus gegebenen Umständen zu machen, vermengen sich verschiedenste Interessen zu einem Chaos aus Egoismus.“
Australien hat geschafft Menschen zwar zu retten, aber Rettung nicht mit Eintrittsticket ins Land zu verbinden. Davon können wir lernen.3/4
— Sebastian Kurz (@sebastiankurz) 5. Juni 2016
Ich lese das Schlussplädoyer Dohertys nochmal und denke: Diese kleine, von oben so niedlich erscheinende Insel offenbart ganz grundsätzliche Fragen im Umgang mit Geflüchteten, im Umgang mit Menschen. Nauru ist 13.700 Kilometer vom Herzen Europas entfernt. Und doch ist es viel näher als man glaubt. Wenn man etwa den Vorschlag des österreichischen Außenministers Sebastian Kurz hört, man solle Flüchtlinge auf Mittelmeerinseln internieren, dann zeigt Nauru: Nur weil man Menschen aus seinem Blickfeld schafft, existieren sie weiter, mit all ihrem Leid. Dann bleiben sie Menschen und keine Zahlen, die man auf einer Karte umherschieben kann.