Nizza Terror Alltag

Nach Nizza: Und plötzlich ist der Terror Alltag

Europa weinte, nachdem am 13. November 2015 in Paris 130 Menschen getötet worden waren. Staatschefs solidarisierten sich, Blumenmeere säumten die Zäune der französischen Botschaften und in den sozialen Netzwerken zeigten die Menschen mit dem Hashtag „Je suis Paris“ den tiefsitzenden Schock über den Angriff auf das Herz Europas.

Sieben Monate später kann von Tränen in Europa keine Rede sein. Die Facebook-Feeds sehen fast so aus wie immer: Katzenbabys, geteilte AfD-Artikel, Sportmeldungen und Fotos aus Mosambik und Indien von Freunden, die man ewig nicht gesehen hat.

In der U-Bahn, auf dem Weg in die Arbeit: Lachen, Starbucks-Kaffee, müde Gesichter, Smalltalk über den Barbesuch am Vorabend. Alles wie immer also. Der Unterschied zu einem normalen Freitag: Am späten Abend des 14. Juli starben in Nizza 84 Menschen. Getötet durch einen Lastwagen, gelenkt von Mohamed Lahouaiej Bouhlel. Am Samstag bekannte sich der IS zu der Tat.

Die Toten werden eine Zahl bleiben

Nach Charlie Hebdo, Paris, Brüssel und Orlando ereignete sich der fünfte Anschlag auf die westliche Welt in den letzten 18 Monaten. Schock und Tränen, Wut und Angst nehmen aber dennoch nicht zu, sondern ab. Der Terror ist nun Teil des westlichen Lebens, es ist offiziell: Man hat sich an die Schreckens-Meldungen gewöhnt. So furchtbar es ist: Nachdem Zeitungen und Fernsehen den Opfern von Paris ein Gesicht verliehen, werden die 84 Menschen an der Cote d’Azur als Zahl in die Geschichte eingehen.

Auch in Frankreich, der Angegriffenen, ist das zu beobachten. „Auf Facebook gibt es viel weniger Posts als nach Charlie Hebdo oder Paris“, schreibt eine gute Freundin aus Rennes. „Wir reden natürlich viel darüber, aber viel rationaler als damals. Mit viel mehr Abstand. Und es ist uns inzwischen allen klar, wie unfair das ist, dass nach Paris die ganze Welt reagierte, und die 200 Toten im Irak beispielsweise nur eine Randmeldung bleiben.“

 

„Niemand war überrascht“

 

Premier-Minister Emanuel Valls sagte nach dem neuerlichen Terror auf französischem Boden, der Terror werde noch lange zum Alltag der Franzosen gehören. Doch was heißt das?

Präsident Francois Holland forderte „absolute Wachsamkeit“ und kündigte eine umfassende Reaktion zur „Erhöhung des Schutzes“ an, die die Einberufung von Reservisten, neue Kontrollen an den Landesgrenzen, Beibehaltung der landesweiten Militärpräsenz von 10.000 Soldaten umfasst. Europa wappnet sich, auf Jahre mit dem Terror zu leben. Wirklich bereit scheint dafür niemand zu sein.

Meine Freundin, die sich zum Zeitpunkt des Attentats in Straßbourg befand und noch dort ist: „Es gibt viel mehr Polizisten und Soldaten in den Straßen. Aber alle wirken nach der EM erschöpft und müde und nicht bereit, den Ausnahmezustand noch länger auszuhalten. Auch die Menschen sind angespannter. Denn auch wenn der große Schock wie nach Paris ausgeblieben ist, weiß man, dass es wieder passieren wird. Nach Nizza war niemand überrascht. Wir alle hatten schon während der EM einen Anschlag erwartet.“

Plötzlich Alltag

Kollektiver Schock und flächendeckende Solidarisierung blieben nach Nizza aus. Die Toten werden schnell der Vergessenheit anheim fallen. Dann wird weiter gelebt, gelacht gefeiert. Und dennoch wirkt Europa schutzlos, hilflos, ratlos. Und so wachte meine Freundin einige Tage später auf und bemerkte, als sie durch die Straßen Straßbourgs lief, diesen bitteren Beigeschmack. Sie hatte den ganzen Abend zuvor mit Freunden gefeiert, gelacht, kein einziges Mal an Nizza gedacht.

Sieben Monate, nachdem sie wegen Paris bittere Tränen vergossen hatte, weinte sie auch nach Nizza. Keineswegs aber wegen des Attentats. Sondern wegen eines betrunkenen Streits mit ihrem Freund. Und der Terror, nur knapp neun Autostunden entfernt, war weit weg. Wie das eben so ist, wenn sich das Leben in einem so kleinen Rahmen abspielt, der nur von Besonderem durchdrungen wird. Besonders Historisches, besonders Kurioses, besonders Unterhaltsames oder besonders Schreckliches. Der Rest bleibt ein Geschehnis in der Ferne. Und so war auch Nizza ein Ereignis, das man schon Stunden später aus den eigenen Gedanken verbannt hat, weil das Unvorstellbare geschehen ist und es vom Besonderen zum Unbesonderen geworden ist. Zu Alltag.

 

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Bildquelle: pexels unter CC0 Lizenz