Politikverdrossenheit

Unsere Politikverdrossenheit: Wie Lämmer und Schafe

Clemens kann nicht mehr. Der Druck, der auf ihm lastet, ist einfach zu groß. Er kann und will kein neuer Guru sein. „Leute, ich bin 21. Ich habe noch nicht einmal eine Vorstellung davon, wie mein Leben in drei Jahren aussehen soll. Ich bin nur ein Mensch. Ich habe kein Studium in Politik und keinen Doktortitel. Alles was ich habe ist einen Verstand und ein Gewissen – so wie jeder von euch“, schreibt er.

Über 11.500 Follower auf Twitter, knapp 20.000 Instagramfans und fast 72.000 Likes auf Facebook – das ist ClemensAlive, ein Junge aus Köln, der seit 2010 in den Social Networks aktiv ist. Er ist eine Ausnahme unter uns Mit-dem-Strom-Schwimmern. Wieso? Weil er sich für Politik interessiert. Nicht nur interessiert, sondern sich auch kritisch damit auseinandersetzt und Leute dazu animieren will, es ihm gleich zu tun. Und was ist passiert? Die gute Absicht wurde geschluckt und umgewandelt. Anstatt selbst das Hirn einzuschalten, ließ man sich von ClemensAlive-Videoclips die Welt erklären und fuhr nach dem Anschauen sowohl Laptop als auch Gehirn einfach runter. Geil.

 

Politikverdrossenheit: Selbständig lenken lassen

 

Wie sieht dieser Typ eigentlich aus? Dieser westliche Gandhi, der eigentlich lieber Komiker als Rudelführer werden würde? Er ist definitiv kein Modeltyp, der mit seinem guten Aussehen 200.000 YouTube-Abonnenten blendet. Auch umstrahlt ihn keine orangefarbene Mönchskuttenweisheit. Eigentlich sieht er ziemlich normal aus, haut manchmal ein bisschen zu laut drauf mit seiner Schenkelklopfertaktik – und trifft dennoch den Nerv seiner Fans.

2013 gab es laut statista.de nur 15,22 Millionen Menschen in Deutschland, die mit Interesse politische Beiträge verfolgen (Politiker wohl mit einberechnet). Der Rest von uns kreucht und fleucht so durch den Alltag, setzt bei Wahlen blind sein Kreuz und verteidigt sich mit Aussagen wie „Ist doch scheißegal, wen ich wähle, Hauptsache ich wähle“, und „Politik gleich Lügen und sowieso immer gegen mich.“

Ende November stand in dem Artikel „Alte lassen sich nicht kaufen“ auf Zeit Online, dass Rentner sich weniger mit durchsichtigen Versprechen ködern lassen. Wir hingegen schon. Der Wahl-O-Mat erfreut sich großer Beliebtheit, spart er uns doch wertvolle Zeit, die wir sonst mit dem Durchlesen zusammengestauchter Wahlprogramme verplempern müssten. Wir haben keine Ahnung, nach welchem Wind sich die politischen Entscheidungen gerade drehen – und nehmen dankbar jede Orientierungshilfe von sämtlichen ClemensAlives entgegen, die wir nur kriegen können.

 

Die Mär vom objektiven Journalismus

 

In Deutschland gibt es unendlich viele verschiedene Zeitungen und Nachrichtenshows, die uns politisch erziehen wollen. Der qualitative Unterschied zwischen den Tageszeitungen lässt sich nicht leugnen – und trotzdem sind sowohl Artikel der Süddeutschen Zeitung als auch die der Bild schon vorgeformt. Russland ist das Land, das gerne Grenzen überschreitet. Amerika lässt gerne die Weltpolizei heraushängen und im Nahen Osten werden Diktatoren und Attentäter am Fließband produziert. Wir hören doch aber nur die eine Seite – würden wir uns eine objektive Meinung bilden wollen, reichte es nicht aus, die Berichterstattungen aus der Süddeutschen Zeitung und dem Spiegel zu kombinieren. Viel mehr müssten wir die Seiten wechseln, in das jeweilige Land reisen und mit den Leuten vor Ort sprechen. Nur so wäre eine ungefilterte Informationsaufnahme möglich.

Ein Beispiel: Der russische Sender RT (ehemals Russia Today) geriet vor Monaten wegen seiner mehr als fragwürdigen Berichterstattung in die Kritik. „Wenn Millionen aus dem Kreml hineingesteckt werden, kann nur Propaganda herauskommen“, wetterte Zeit Online gegen den Fernsehkanal. „Echte Nachrichten und Analysen neben irrelevant Buntem und purem Unsinn – das macht diese Art der Propaganda aus.“ So spinnt sich der russische Sender etwas über deutsche Großmachtbestrebungen zusammen, eine Theorie, bei der ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll. Für uns eine unvorstellbar irrsinnige Unterstellung – für jemanden, der aber aus weiter Entfernung heraus deutsches Verhalten beobachtet, vielleicht nicht ganz so abwegig.

Und wie war das damals mit den Atomwaffen im Irak? Das wurde von der ehemaligen Regierung unter George W. Bush verbreitet, einhergehend mit dem Ziel, Saddam Hussein zu stürzen und die Welt von dem Bösewicht zu befreien. Geglaubt wurde diese Irreführung so lange, bis ersichtlich wurde, dass es keine Massenvernichtungswaffen gab. Und es in Wahrheit um Öl, Vergeltung und Machtdemonstration ging.

 

Die Macht der Bilder

 

Diese Fälle sind nur zwei Beispiele aus tausend „objektiven“ Berichterstattungen. Sie zeigen doch aber eins: dass Propaganda von jeder Regierung genutzt wird – sowohl von der „guten“ als auch von der „bösen“ Seite. Und wir stecken mitten drin, in diesem undurchschaubaren Dschungel aus Reformen, Gesetzesentwürfen und Handelsabkommen. Sie können uns viel erzählen, die Minister, Sekretäre und Pressesprecher. Medien schnappen dann nach Informationsfetzen, wandeln diese in Beiträge um und präsentieren sie uns auf einem übervollen Buffet. Und da können wir uns dann rausklauben, was wir wollen. Ob das, was wir dann auf unsere Teller laden, auch das ist, was uns wirklich schmeckt – das erfahren wir erst, wenn wir es gegessen haben. Oder eben auch nicht.

Noch eine kleine Demonstration für schwarz-weißes Denken in Form eines Videospiels. Jetzt.de hat dieses schlecht animierte Computerspiel ausgegraben, das für junge Palästinenser kostenlos zugänglich ist. Bei The Liberation of Palestine geht es angeblich um die Vermittlung von Taktik – während sich die Spieler Waffen aussuchen können, um damit Israelis abzuknallen. Zwei Völker, ein Gebiet – und dazwischen der Gazastreifen als symbolischer Graben, der zwischen der Versöhnung liegt. Die über Generationen weitergegebenen Märchen über die jeweils anderen machen einen anhaltenden Frieden unmöglich. Und auch hier wieder glänzt der Einsatz von Propaganda, eine bewusste Streuung von Fehlinformationen, die eine Aussprache im Keim erstickt.

https://www.youtube.com/watch?v=mPTcvbne2gc

Schwarz, weiß – und grau

 

Egal, ob sich eine Geschichte zwischen Freunden oder den Großen der Welt abspielt: Es gibt immer zwei Seiten. Und dazwischen eine ganze Palette von Grautönen, in der sich Wahrheit, Lügen, Objektivität und subjektive Sichtweisen vermischen. Unabhängigen Journalismus gibt es. Krautreporter ist ein Beispiel für das Bemühen, nur bis zum Ende durchrecherchierte Stories an Leser weiterzugeben. Ein gutes Vorbild – nur läuft dieses Projekt gegen die Zeiger der Zeit. Kaum jemand wird sich in der Hektik des Alltags durch seitenlange Berichte arbeiten. Auch, wenn sie noch so wahr sein mögen – wir werden weiterhin auf kurz zusammengefasste Tagesschauen setzen, weil in unserem vollgestopften Tagesablauf kaum etwas anderes hineinpasst.

Auch in meine Timeline werden ClemensAlive-Beiträge gespült. Auch ich tendiere eher dazu, mir etwas vorkauen zu lassen, anstatt auf eigenes Risiko etwas vom Informationsbuffet zu wählen. Aber nur, wenn wir anfangen, eigenständig das auszusuchen, was uns wirklich zusagt, können wir Geschmäcker herausbilden. Und uns eine Meinung formen, die nicht von den Vorlieben eines anderen abhängen. Erst dann haben wir die Chance, unseren eigenen Weg durch den undurchdringlichen politischen Wirrwarr zu finden – und auch nicht aufgeschmissen im Dunkeln zu tappen, wenn sich „unser Guru“ plötzlich von seinem „Analysejob“ verabschiedet.

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Bild: Bettina Braun unter cc-by-sa 2.0