Selbstfindung

Reisen, um sich selbst zu finden: Was ist dran am Klischee?

Das Klischee von jungen Menschen, die in die weite Welt gehen, um sich selbst zu finden, ist uns allen vertraut. Doch wie viel von „sich selbst“ findet man da draußen wirklich?

An alle jungen Menschen, die demnächst nach Australien, Neuseeland, Thailand, Brasilien oder wohin auch immer aufbrechen und dabei das Ziel haben, „sich selbst zu finden“ – lasst euch gesagt sein: Das werdet ihr nicht. Jedenfalls höchstwahrscheinlich nicht.

Genau genommen passiert auf einer langen Reise sogar das Gegenteil von „sich selbst finden“: Man verliert sich. Zwischen wunderschönen Orten und Gesichtern. Man geht unter – inmitten von Flugtickets, Bustickets und Menschenmengen.

Was bedeutet „Selbstfindung“?

Ich glaube, dass Selbstfindung für viele junge Menschen, die für eine lange Zeit reisen gehen, bedeutet, mehr in sich selbst zu ruhen, wenn sie zurückkommen. Sie erhoffen sich, dass sie sich danach so richtig auf den Ort einlassen können, an dem sie in Deutschland leben. Sie haben die Hoffnung, dass sie danach ohne FOMO ins Berufsleben starten oder anfangen zu studieren. Aber: Ich muss euch enttäuschen.

Einerseits fühlt es sich zwar tatsächlich beruhigend an, zumindest einen Teil dessen, was man gern von der Welt sehen will, gesehen zu haben – nach dem Motto „Jetzt kann ich in Ruhe sterben“ –, aber andererseits wird die Sehnsucht nach dem Rest der Welt meiner Meinung nach nur größer, sobald man einmal Blut geleckt hat.

Für andere Menschen bedeutet „Selbstfindung“ vielleicht, sich selbst besser zu kennen und besser zu wissen, was man vom eigenen Leben erwartet. Was man machen will. Aber auch hier gilt meiner Erfahrung nach, dass man diesbezüglich nach einer Reise nicht unbedingt schlauer, sondern eher verwirrter ist.

Denn während man unterwegs ist, wird man mit so vielen Lebensentwürfen und Möglichkeiten konfrontiert, wie man es noch nie vorher erlebt hat. Man trifft wahre Überlebenskünstler*innen und Menschen, die man für ihre Art und Weise, ihre Brötchen zu verdienen und ihr Leben zu leben einfach nur bewundern kann. Man erkennt – wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt – so richtig, wie vielfältig das Leben eigentlich sein kann und wie viel es für einen bereithält, wenn man sich nur darauf einlässt. Man erkennt, dass es noch viel mehr Möglichkeiten gibt, als man angenommen hatte – und selbst die Anzahl der Möglichkeiten, von der man ursprünglich ausgegangen ist, war schon überfordernd.

Das Gap-Year

Man trifft Menschen, die ihre Jobs gekündigt haben und nicht wissen, was danach kommt. Menschen, die ein Sabbatjahr machen und gerade dabei sind, ihr ganzes Leben zu überdenken. Menschen, die als Volunteers in Hostels arbeiten, dafür ein Zimmer und eventuell Essen gestellt bekommen und so monatelang in einfachsten Verhältnissen leben. Man trifft Menschen, die regelmäßig zwölf Stunden pro Tag auf Cannabis-Farmen in den USA arbeiten und monatelang in Zelten schlafen, um nachher mit dem verdienten Geld reisen zu gehen. Man trifft Menschen, die als Englischlehrer*innen im Ausland ihr Geld verdienen. Menschen, die Start-Ups gründen wollen. Autor*innen, Surflehrer*innen, Straßenmusiker*innen, Köch*innen. Menschen, die remote arbeiten und sich auf diese Weise ein Leben finanzieren können, das förmlich aus Reisen besteht. Menschen, die in jeglicher Form ihre Dienste anbieten, um reisen und möglichst viel von der Welt sehen zu können.