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Zu wahr, um schön zu sein? Über den Segen der Naivität

Von Melanie Waldschmitt

„Um wirklich glücklich sein zu können, gehört ein bisschen Naivität dazu.“ Aha. Ich schaue meine Freundin an, wie sie sich gekonnt in einer Bewegung den Lippenstift auf die Lippen schmiert und mir danach einen Kussmund zuwirft. Mürrisch stehe ich hinter ihr und versuche meine heutige „Warum ist die Realität so schrecklich hart?“ – Laune in erträglichem Rahmen zu halten. Sie packt ihren Maybelline zurück in die Tasche und begutachtet sich nochmal erst kritisch, dann aber zufrieden im Spiegel, ehe sie mich angrinst. Auf dem Weg zurück vom Klo führt sie ihren Monolog fort: „Guck mal, wenn du bei jedem Drink an den Kater morgen denkst, schmeckt er nur noch halb so gut. Oder beim Ausschnitt an die Erkältung. Oder beim Flirt an den Herzschmerz.“ Bevor sie mir nun noch etliche Beispiele aufzählt, seufze ich ihr dazwischen. Sie hakt sich bei mir unter und lächelt mich dann an: „Klar, kann es richtig mies laufen, aber es kann ja auch richtig gut gehen.“ Scheint als wäre meine Sportlichkeit mal wieder gefragt. Lieber gut gehen anstatt mies laufen. Nicht immer vor dem was wäre wenn davonrennen – mal auf dem Weg bleiben und genießen.

Kleine Durststrecken sind übrigens okay!

Lachend zwinkert sie mir zu. Sie kennt mich manchmal einfach zu gut. Ich rolle mit den Augen und stimme in ihr Lachen ein. Aber ich weiß, was sie meint. Es ist okay, sich auch mal ausgezehrt und antriebslos zu fühlen, aber man sollte dann nicht einfach stehen bleiben oder umdrehen. Bei allen Situationen, denen man im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Weg gehen will, liegt es meistens daran, dass man diese pessimistisch wahrnimmt. Was alles passieren kann. Vielleicht sogar wird. Wie oft bremst man sich selbst aus, vor lauter Angst, dieser und jener Fall könne nun dazwischen kommen und einem den Tritt über die Ziellinie verwehren. Aber manchmal geht es eben nicht ums Gewinnen, sondern nur um den Weg, nicht wahr? Sexy Ausschnitt, leckere Drinks, Flirts. Risiken: Erkältung, Kater, Herzschmerz.

Realistisch betrachtet ist das Leben gewagt, ungesund und kann ziemlich weh tun.

Gewagt, ja. EBEN! Und ja, das alles kann passieren, aber genauso wenig, wie es eine Garantie dafür gibt, dass es nicht so sein wird, gibt es eine Garantie dafür, dass es so sein wird. Wir sprechen hier lediglich von Wahrscheinlichkeiten. „DU betreibst das Bordell für deinen mindfuck.“ Sie und ihre passenden Vergleiche. „Räum vielleicht mal das Stockwerk oben auf, und vor allem um.“ Ja, die Einstellung ist die halbe Miete zum Glück. Und dazu mit fetter Provision an sich selbst. Wenn bei mir etwas im Gange ist, mache ich mir selbst einen Strich durch die Rechnung. Das sei ja viel zu schön, um wahr zu sein. Wenn man Dinge realistisch angeht, findet man aber immer Risiken. Weil alles im Leben eben Vor- und Nachteile hat. Es kommt ja darauf an, was man sehen will. Und wenn man glücklich sein will, kann man die Nachteile doch auch schon manchmal unter den Tisch fallen lassen. Oder hinter den Tresen.

Wenn man immer alles berücksichtigen will, wird man nur schwer glücklich. Denn man findet immer etwas, was einem die Laune daran verdirbt. Für meine Freundin ist das Glas nur halb leer, wenn es darum geht, Gin Tonic an der Bar bei dem süßen Barkeeper nachfüllen zu müssen. Da wären wir dann übrigens wieder beim Thema „Durststrecken“. Pessimismus den Kampf ansagen und weiter gehts! Sie hat Spaß, auch wenn es ihr morgen wahrscheinlich richtig elend gehen wird (und wieder einmal weiß ich zu schätzen, dass ich diese Woche nicht fürs Bad im Putzplan eingetragen bin). Womöglich gehen wir heute auch nicht alleine nach Hause, sondern mit Alex im Schlepptau. Auf den Barkeeper steht sie schließlich schon seit Wochen. Und natürlich kann auch das alles elend enden – in Herzschmerz. Aber das ist eben der Unterschied zwischen uns: Ich gehe gleich davon aus, dass es so sein wird. Die Einstellung, dass das nicht passiert, ist vielleicht naiv, aber sie macht glücklicher. Das ist der gesunde Hang zum Leichtsinn, das Risiko. Der Vertrag mit dem Glück.

Wenn man das Negative immer unterstreicht, übersieht man die Dinge zwischen den Zeilen.

Und da verstecken sich die besten Endorphine! Man übersieht viel zu leicht auch viele kleine Dinge, die alles nochmal besser machen, als die offensichtlichen Vorzüge. Klar, sie hat all die Hemmungen runtergespült, hat Spaß mit dem Barkeeper, sie wird sich attraktiv fühlen und so weiter. Aber zwischen all dem sind noch tiefe Blicke, die sie in den Bann ziehen, Lachen, Wortwechsel, Gesten. Vielleicht teilen sie ja auch mehr als nur das Laken für heute Nacht? Ist es also überhaupt möglich zu genießen, wenn man es nicht zulässt, Dinge positiv zu sehen? Ist es möglich glücklich zu sein, wenn man nicht glücklich denkt? Wahrscheinlich nämlich nicht. Und diese Wahrscheinlichkeit ist mehr als hoch.