Stress als Statussymbol: Nur wer ausbrennt, studiert „richtig“?!
Wer in Deutschland studiert, lebt gefährlich. Denn Stress ist bekanntlich eine der größten Gefahren unserer Gesellschaft. Stressbedingte Erkrankungen wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle führen die Liste der häufigsten Todesursachen an. Karoshi – so nennen die Japaner den Tod durch Stress. Dass es hierzulande noch kein hippes Wort dafür gibt, bedeutet aber keinesfalls, dass es nicht ebenfalls zu solchen tragischen Ereignissen kommt. Zugegeben: Dass Studierende am Stress sterben, ist äußerst selten. Doch es kommt vor. Und vor allem leiden immer mehr Studenten in Deutschland an psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Ängsten. Wer kein Burnout hat, ist schon beinahe ein Außenseiter. Ein Verlierer in einer Gesellschaft, in welcher Stress zum Statussymbol geworden ist.
Kein Stress ist auch keine Lösung…
Die Extreme in Japan mögen wir in der Bundesrepublik noch nicht erreicht haben. Doch Stress prägt auch hier den Alltag vieler Menschen. Wer nicht gestresst ist, arbeitet nicht genug. Wer nicht genug arbeitet, hat nicht genug Geld. Und wer kein Geld hat, ist in dieser Gesellschaft nichts wert. Traurige Worte mit einem wahren Kern, denn in unserer materialistischen Nation wird Stress gleichgesetzt mit der Wichtigkeit, dem Erfolg, der Macht oder schlichtweg dem Wert eines Menschen. Klingelt nicht ständig euer Handy, so seid ihr eben nicht beliebt genug. Bekommt ihr ausreichend Schlaf, habt ihr keinen wichtigen Job. Und seid ihr nicht dauergestresst, führt ihr ein sinnloses Leben. Bewusst oder unbewusst, haben sich diese Gedanken mittlerweile in den meisten Köpfen verankert.
Stress als Statussymbol, ja als eine Art Schwanzvergleich, ist per se kein neues Thema. Doch Studenten waren davon bis vor wenigen Jahren nicht betroffen. Das Studium ist schließlich die schönste Zeit des Lebens. Eine Zeit, um Fehler zu machen, Abenteuer zu erleben, sich selbst zu finden oder sich nicht mehr an die letzte Nacht zu erinnern. Das Studium selbst wird dabei schnell zur Nebensache. Zumindest war das früher so. Denn mittlerweile haben Studierende keine Zeit mehr für solchen unnötigen Schnickschnack. Feiern, flirten oder Freunde treffen? Von wegen! Wer „richtig“ studiert, hat schließlich Stress. Und nur wer Stress hat, gehört zu den Gewinnern.
…sonst würde die Ablenkung fehlen
Diese Einstellung der Berufstätigen schlägt sich langsam auch auf die einst so unbeschwerte Studienzeit nieder. „Nach meinem Studium werde ich gewiss so ein Manager, der immer auf Koks ist“, lauten die Karrierepläne der Kommilitonen und wenn ihr nicht solch hochtrabende Pläne habt, fühlt ihr euch wie ein Außenseiter? Mag sein, aber in diesem Fall dürft ihr auch einfach mal stolz sein, nicht mit dem Strom zu schwimmen. Denn so viel Stress jeder plötzlich hat, so sehr wird auch gejammert.
Ein Blick hinter die Fassade offenbart hingegen schnell, dass die „ach so gestressten“ Kommilitonen eigentlich nur ihre Minderwertigkeitskomplexe verstecken und eigentlich genauso planlos sind wie ihr – oder sogar noch schlimmer. Denn dieses ständige Gestresstsein lenkt ja auch angenehm von den eigenen Problemen ab oder davon, sich mit sich selbst auseinandersetzen zu müssen. Und genau da hapert es an vielen Stellen…
Stress vs. Psyche: ein Ei-Henne-Problem!
Wer nämlich einmal den Stress beiseite schieben und einen Blick nach innen richten würde, würde schnell merken, dass da so einiges nicht (mehr) stimmt. Immer mehr Studierende in Deutschland leiden unter psychischen Problemen wie Depressionen oder Angststörungen, so die Ergebnisse des Barmer-Arztreports aus dem Jahr 2018. Der Stress in Form von Leistungsdruck sei daran schuld, vermuten viele Studierende und das gibt ihnen den perfekten Grund, um wieder mit dem Jammern zu beginnen.
Allerdings ist das ein Irrtum. Denn Stress entsteht in den seltensten Fällen aus äußeren Faktoren. Stattdessen stecken dahinter die eigenen Ängste. Die Angst vor dem Versagen. Die Angst, nicht gut genug zu sein. Die Angst, später keinen Job zu finden. Die Angst, eben doch kein so „erfolgreicher Manager auf Koks“ zu werden. Die Liste ist lang. In jedem der „ach so gestressten“ Studierenden steckt also das kleine verängstigte und von Komplexen geplagte Kind von früher. Kein Wunder, dass wir uns immer mehr zu einer narzisstischen Gesellschaft entwickeln. Und kein Wunder, dass Stress zum Statussymbol herangewachsen ist – auch schon im Studium. Ob nun also der Stress oder die psychischen Probleme zuerst da waren, lässt sich nicht sagen. Sie bedingen und verstärken sich gegenseitig.
Das Studium selbst wird zum Statussymbol
Vielleicht liegt diese Entwicklung auch daran, dass immer mehr junge Menschen aus Prinzip studieren gehen. Und zwar, obwohl sie eigentlich besser für eine Ausbildung geeignet wären oder sie das Studium überhaupt nicht interessiert. Denn das narzisstische Ego muss mit dem höchstmöglichen akademischen Abschluss gefüttert werden. „Nur“ eine Ausbildung zu machen? Undenkbar, denn das wäre ja nicht stressig genug! Genau an dieser Stelle liegt die Ursache des Problems. Das Studium selbst ist zum Statussymbol herangewachsen. Wer also nicht studiert, macht etwas falsch. Und wer studiert, aber nicht gestresst ist, macht ebenfalls etwas falsch.
Um diesem Teufelskreis zu entkommen, müsst ihr ihn euch erst einmal bewusst machen. Und dann heißt die Devise: Gegen den Strom schwimmen. Denn ohne Stress lebt es sich gesünder und glücklicher – garantiert. Und dann sollen die anderen doch jammern oder sich als „Gewinner“ fühlen! Wen kümmert das? Verabschiedet euch von all den Statussymbolen und sucht euch die Ausbildung, welche euch wirklich Spaß macht. Und ja, dabei muss es sich nicht um ein Studium handeln, sondern es darf auch tatsächlich eine Ausbildung sein. Schließlich gibt es viele spannende Berufe mit exzellenten Perspektiven, welche ihr ohne Stress erlernen und ausüben könnt:
– Ihr könnt eine handwerkliche Ausbildung machen und später ein eigenes Unternehmen gründen. Wenn ihr wollt, findet ihr dort ebenfalls eine Menge Stress und Grund zum Jammern. Doch wenn nicht, könnt ihr entspannt das Ruder in die Hand nehmen und euer Startup zum Erfolg führen.
– Ihr könnt als Optiker/in mit den Kunden lachen, euch über die aktuellsten Modetrends austauschen und einen abwechslungsreichen Berufsalltag genießen mit geregelten Arbeitszeiten. Und wenn euch das noch nicht stressig genug ist, sucht ihr euch eben einen Nebenjob oder strebt eine Führungsposition an.
– Ihr könnt als Krankenpfleger/in einen unterdurchschnittlich bezahlten Beruf mit Schichtsystem und harter körperlicher Arbeit ergreifen, um besonders viel Grund zum Jammern zu haben. Oder ihr reduziert eure Arbeitszeit und findet Erfüllung darin, Menschen zu helfen und etwas Gutes zu tun.
Die Ironie ist nicht zu überhören: Jeder von euch wird überall Stress finden können oder eben nicht – unabhängig davon, ob ihr studiert, eine Ausbildung absolviert oder welchen Beruf ihr wählt.
Von „richtigen“ und „falschen“ Studierenden
Ob ihr „richtig“ oder „falsch“ studiert, arbeitet, lebt – das hängt nicht von eurem Stresslevel ab. Stattdessen solltet ihr euch von solchen Statussymbolen befreien und euer Leben danach ausrichten, was euch glücklich und gesund macht. Viele von euch hätten sich dann gewiss gar nicht für ein Studium, sondern für eine der genannten Ausbildungen oder ein anderes Berufsbild entschieden. Wenn ihr also den Studienabschluss nur als Statussymbol erwerbt…ja, dann studiert ihr tatsächlich „falsch“ und solltet es lieber sein lassen. Habt ihr das Studium hingegen gewählt, weil es sich tatsächlich um euren Traumjob handelt, seid ihr an der richtigen Stelle. Nur, weil ihr nicht von Stress geplagt und ständig am Jammern seid, studiert ihr deshalb nicht „falsch“.
Das Studentenleben darf Spaß machen und es darf die schönste Zeit eures Lebens sein. Leistungs- und Zeitdruck, Versagens-, Prüfungs- oder Zukunftsängste, gesundheitliche oder finanzielle Sorgen…all das gehört zu einem Studium hinzu und ist ganz natürlich. Allerdings liegt darin der wahre Grund für Stress und nicht in der Wichtigkeit, dem Erfolg, der Beliebtheit einer Person oder anderen angeblich erstrebenswerten Dingen. Nein, Stress ist also kein Statussymbol und auch kein Zeichen dafür, dass ihr nicht „richtig“ studiert. Stattdessen ist er als Zeichen zu werten, dass die Betroffenen dringend an ihren psychischen Problemen arbeiten sollten, um eben nicht eines Tages zu den vielen von Depressionen, Angst- oder anderen Störungen geplagten Studierenden zu zählen. Solche Probleme zu haben, ist nämlich weder ungewöhnlich noch eine Schande. Sich diesen nicht zu stellen, sondern sich hinter seiner gestressten Fassade zu verstecken, hingegen schon…
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