Stress Heult leiser

Heult leiser! Stress ist der neue Schwanz-Vergleich

Freunde, es tut mir leid, falls dieser Einstieg etwas hektisch daherkommt. Aber ich bin echt im Stress! Und dieser Artikel muss pünktlich abgegeben werden. Ehrlich, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen, was mir hier alles um die Ohren fliegt. Ich bin so im Stress, manchmal vergesse ich einfach, aufzustehen. Dann schlafe ich bis halb zehn, so im Stress bin ich.

Nach heutiger These wäre ich jetzt der Gewinner. Der Gewinner nämlich rauscht mindestens dreißig Minuten später als alle anderen in jede Bar, zieht aber ab der einunddreißigsten alle Aufmerksamkeit auf sich. Er keucht, hechtet, plumpst und jammert. Er nörgelt. Er geht einem heftig auf die Nerven – er ist der Sieger im neuen Schwanzvergleich. „Ich bin ja so im Stress“, das ist Entschuldigung und Selbstwertpolitur in Einem.

Wenn’s leicht ist, machst du’s nicht richtig!

Manchmal hat man das Gefühl, man könnte sich nicht mehr nach dem Befinden seiner Mitmenschen erkundigen, ohne gleich vollgespritzt zu werden mit larmoyantem Egogewichse. Auf jede Nachfrage folgt entweder ein verbales oder ein gestisches „Wie soll’s mir schon gehen? Stressig isses!“ Und das beschränkt sich nicht mal nur auf Arbeit und Uni, wo eine gewisse Och-nö-Haltung ja irgendwo verständlich wäre. Nein, Peters Studium ist mit Abstand das anspruchsvollste, aber Marie ist total abgespannt, weil viele Freunde und alle wollen was und drei Kurztrips in vier Wochen und nächste Woche gleich wieder los nach Berlin. Und Marco ist eh 24/7 im Freizeitstress – zu viele Clubs, zu viele Events, und dann noch der ganze Alkohol. Die Armen! Alles muss heutzutage irgendwie im genau richtigen Maße stressig sein, um seine Berechtigung zu finden. Was wert zu sein. In dieser Hinsicht ist das Leben wie eine fortgeschrittene Matheaufgabe: Wenn’s leicht ist, machst du’s nicht richtig.

Stress als postmodernes Statussymbol

Eigentlich haben unsere Eltern, die Generation der Babyboomer, doch dafür vorgelegt, dass wir ein weitestgehend sorgenloses Leben führen und unbekümmert zwischen Hörsaal und Lieblingsclub oszillieren können. Wir sind der studentische Pöbel, um dessen Hänger-Lifestyle uns jedes berufstätige Zombie beneidet, wir können dreimal die Woche feiern gehen und haben auch noch die physischen Kapazitäten, das zu verkraften. Während sich unsere Eltern in unserem Alter stilecht nach Italien importierten, während sie im Sommer an der Ostsee oxidierten oder maximal in Holland hingen, gehört eine dreiwöchige Asien-Reise unter Mittzwanzigern inzwischen zum guten Ton. Und wir finden das ja alles aufregend und schön. Aber halt auch wahnsinnig anstrengend! Stress wird zum Statussymbol und das Jammern darüber zum psychologischen Schwanzvergleich. Ihn zu haben, ist plötzlich erstrebenswert. Trendy. Voll Hipster. Erstrebenswert: Stress! Wie zur Hölle ist das denn passiert?

Es gilt hier zwei Sachen zu untersuchen: erst den Stress. Dann das Jammern. Ich erinnere: Stress plus Jammern gleich Schwanzvergleich. Die amerikanische Stressforscherin Leslie Reisner identifizierte schon vor Jahren Stöhnen über Stress als neuen Trend. Die Gleichung ist zunächst simpel: Der Wert einer Arbeit ermisst sich an der Schwierigkeit und ihrem Aufwand. Je mehr Aufwand, desto mehr Stress – und je Stress, desto cool. Aber es ist auf den ersten Blick schon eher überraschend, dass so eine fiese Zecke wie Stress zum generationellen Schwanzvergleich taugt. Waren das früher nicht Sticker, Handys oder Autos, je nach Alter? Selbst klassische immaterielle Werte – Erfolg, Humor, Frauen, sowas – wären irgendwie einleuchtender. Aber Stress ist ein postmodernes Statussymbol, weil er verdeutlicht, dass man sein Leben mit Bedeutung füllt, dass es Sinn hat, was man macht. Dass man sich nicht gehen lässt. Weil man viel macht und das bedeutet Macht. Und dass man sich darüber aufregen kann, macht die Sache nur noch so viel geiler. Das Jammern über Stress ist ergo eigentlich ein Protzen, aber so subtil, dass man nebenbei noch Anerkennung und Mitleid einkeschern kann.

Christian Ortner: „Weicheier seid ihr!“

Christian Ortner hat ein Buch darüber geschrieben, wie unsere Klagekultur das deutsche Wirtschaftssystem bedroht. „Hört auf zu heulen“, heißt der Text, „Warum wir wieder härter werden müssen, um unseren Wohlstand zu schützen.“ Er sieht vor allem die Erziehung von Selbstverwirklichung und weniger von der Notwendigkeit harter Arbeit als Grund für unser Stressempfinden. „Und jetzt kollidieren halt die Illusionen mit der Wirklichkeit“, stellt er gegenüber ZEITjUNG fest. Als ich den Wirtschaftsjournalisten mit meinen Fragen konfrontiere, wird schnell klar, dass er vor allem für die Generation Y nichts übrig hat. Verweichlicht seien wir, verwöhnt von Luxus und Liberalität der Eltern. „Vergleicht euer Leben mal mit dem von Helmut Schmidt und seiner Generation“, rät er trocken. Gut, ich gebe zu, dass mein Studium verglichen mit so einem Weltkrieg jetzt nicht der Wahnsinnsstress ist. Aber ist das der Maßstab?

Auch auf meine Frage, ob unser Jammern nicht auch eine Strategie, eine Art kathartisches Stressventil sein könnte, findet Ortner recht deutliche Worte: „Weicheier seid ihr.“ Müssen wir also einfach unsere Klappe halten, eingebildeten wie realen Druck runterschlucken und aufhören zu heulen? Ich denke nicht – trotz allem. Auch wenn wir keinen Weltkrieg und keine Sturmflut miterlebt haben, haben wir ein Recht auf Stress. Wir kennen eben nur unser Leben und auch das kann manchmal überfordern.

Aber in den meisten Fällen darf man das dann eben auch für sich behalten. Diese selbstreferentielle Kacke über sein ach-so-schlimmes Leben, seine ach-so-stressige Freizeit, die eigentlich nur eine Hymne auf die Produktivität des Selbst ist, braucht kein Mensch. Hört damit nicht auf, wenn es nicht anders geht, unsere Gesellschaft lebt ja vom Austausch. Aber verdammt, heult wenigstens leise!

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Bildnachweis: Giuseppe Milo unter CC by 2.0