Pokemon Go ein Traum wird Wirklichkeit

Pokémon Go: „Ich will der Allerbeste sein“

Ich bin wieder elf Jahre alt. Hastig schlüpfe ich in meine Turnschuhe und will am liebsten drei Treppenstufen auf einmal nehmen, um schneller nach unten zu kommen. Vor der Tür wartet ein Kumpel. Wir sind verabredet, um auf die Jagd zu gehen. Er zwinkert mir wissend zu. Keine große Begrüßung, schließlich sind wir in geheimer Mission unterwegs: „Hast du den Akku geladen?“ Ich nicke. Dann los – Pokémons jagen!

 

Ich will der Allerbeste sein

 

Pokémon Go hat mein Smartphone und mein Herz erobert. Und das über Nacht, denn im Vergleich zu vielen anderen Poké-Trainern hatte ich in meiner Kindheit nichts mit den kleinen Monstern am Hut. Bei meinem Kumpel ist das anders. Für ihn geht dank des Spiels ein lang ersehnter Kindheitstraum in Erfüllung. Ich frage nach: „Am liebsten würde ich meinem neunjährigen Ich von Pokémon Go erzählen. Er würde komplett ausrasten!“ Bei diesen Erzählungen blitzen seine Augen. Fast sehe ich den kleinen, rothaarigen Jungen, der durch den Wald klettert und in seiner Vorstellung Pikachus, Glumandas und Schiggys wahr werden lässt. Nun ist er knapp 15 Jahre älter, aber die Begeisterung bleibt dieselbe: „Bei meinem ersten Pikachu hatte ich Tränen in den Augen. Ich habe nicht gewusst, dass ein Spiel so etwas in mir auslösen kann.“ Pokémon Go ist der wahr gewordene Traum eines jeden Kindes, das in den Neunzigern mit dem gleichnamigen Anime aufgewachsen ist. Nur noch ein kleiner Smartphonebildschirm trennt sie jetzt von ihren Helden – und lässt sie dabei selbst zu Helden werden.

 

„Pokémon Go“: bei Google mehr Suchanfragen als „Sex“

 

Es ist unsere kindliche Neugier, die Pokémon Go befriedigt. Ob am Kölner Dom, an der Oper von Sydney oder im Central Park in New York: Derzeit versammeln sich unzählige Sammlerinnen und Sammler an den verschiedensten Orten ihrer Heimatstädte, nicht nur um Pokémon zu fangen, sondern auch um ihr kindliches Ich wieder zum Leben zu erwecken. Es ist ein globaler Hype, den es in dieser Weise noch nie davor gab. Zwei Wochen nach dem Start in den USA gibt bereits Millionen Anhänger weltweit. Das Spiel hat mehr aktive Nutzer als der Nachrichtendienst Twitter oder die Dating-App Tinder. Die eifrigen Jäger verbringen mehr Zeit mit ihren kleinen Monstern als mit Facebook. Und noch ein unfassbarer Rekord: Der Suchbegriff „Pokémon Go“ hatte bei Google kurzeitig mehr Anfragen als „Sex“. Als entschlossener Trainer muss man eben Prioritäten setzen.

 

Ganz allein fang ich sie mir

 

Der wahnsinnige Erfolg hat Gründe: Das gemeinsame Projekt von The Pokémon Company, Niantic und Nintendo schafft es, Augmented Reality für jedermann zugänglich zu machen. Alles was man braucht, ist ein Smartphone und schon kann man Traumatos im realen Leben nachjagen. Das ist eine Revolution, denn zu einer Zeit, in der polyphone Klingeltöne der heilige Gral am Coolness-Himmel waren, hielt man so etwas für alberne Spinnerei. Inzwischen wissen wir, was die Technik alles möglich macht. Aber die breite Masse erreichte die Technologie bisher nicht. Nur wer sich stundenlang auf einer Spielmesse in eine Warteschlange einreihte, konnte in neue unbekannte Welten eintauchen. Damit ist jetzt Schluss: Viele weitere Spiele werden folgen und wahrscheinlich ist es in fünf Jahren das Normalste der Welt, mit einer „erweiterten Wirklichkeit“ zu leben. Davon bin ich inzwischen fest überzeugt. Das war nicht immer so. Als ich den ersten Trailer zu Pokémon Go sah, war ich sehr skeptisch. Neugierig klar, aber skeptisch. Ich dachte: „Herrje, wieder ein lausiges Free-to-Play-Spiel, dass letztendlich nur heiße Luft, satt Begeisterung hinterlässt.“

 

Komm schnapp sie dir!

 

Aber ich wurde eines Besseren belehrt. Ich warf meine Skepsis über Bord und räumte für die App einen Platz auf meinem Smartphone frei. Und nun steh ich hier. Auf dem Rücken mein Rucksack, darin eine Flasche Wasser und ein Käsebrot – man weiß schließlich nicht wie lange die wilde Jagd gehen wird. Im Gestrüpp vor meiner WG sitzt ein Taubsi – geschickt gefangen mit nur einem Wurf. Und kurz überlege ich mir, ob der Laden um die Ecke vielleicht eine rot-weiße Schirmmütze verkauft.