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Hannah, 28, hat Narkolepsie

Das war im Jahr 2010. Sie schob es auf ihren Lebensstil, der gefüllt war mit Schule, FSJ und Praktika im Klinikum. „Ich hatte Tage, wo ich keine Stunde wirklich wach war. Die Lehrer fanden das natürlich katastrophal und ich selber habe mich auch gefragt: Was ist falsch mit mir? Warum kann ich nicht so viel leisten wie die anderen?“ Auch wenn es Inhalte waren, die sie interessierten: Nichts konnte sie davon abhalten, in Vortragssituationen einzuschlafen. „Bitter wurde es dann, wenn mir Lehrer oder andere unterstellten, ich wäre faul oder vielleicht einfach nur dumm. Das war der Augenblick, als bei mir Depressionen einsetzten. Leider eine absolut klare Co-Erkrankung von Narkolepsie.“ Schriftliche Prüfungen abzulegen war für Hannah zu diesem Zeitpunkt keine Option mehr und ihre Bitte, sämtliche Prüfungen in mündlicher Form ablegen zu dürfen, stieß bei Lehrern und Mitschülern auf Unverständnis. Ihr Fachabitur hat Hannah trotzdem geschrieben – ohne Medikamente, ohne Diagnose, mit Einschlafen. „In meiner schriftlichen Englischprüfung bin ich irgendwann aufgewacht und hatte auf meinem Blatt in fetten Lettern „… und ich kann zaubern“ stehen. Ich kann im Schlaf also schreiben. Das ist meine beste Narkolepsiegeschichte überhaupt.“

 

„… als würde man mir ständig mit einem kleinen Hammer an die Kniescheibe klopfen“

 

Der Umstand, während Vorträgen wegzudösen, war für Hannah noch vergleichsweise harmlos. Mittelbar gefährlich wurde es, als sie begann, am Steuer ihres Autos, aber auch in Clubs und Nachtbussen einzuschlafen. Selbst bei tosender Musik um sie herum hielt sie nichts auf Dauer wach. „Als Frau willst du das wirklich nicht erleben, so angreifbar zu sein“ erzählt sie, während sie den Hundewelpen krault, der schnarchend auf ihrem Schoß eingeschlafen ist. „Die Kleine macht mir auch immer wieder den Alltag schwer. Einfach weil sie so süß ist“, lacht Hannah gerührt. Ihr Körper zuckt leicht, fast unbemerkbar. „Das war gerade eine typische Kataplexie, falls du dich wunderst“, sagt sie, nicht ohne zu schmunzeln.

Solche sogenannten Kataplexien sind ein weiteres extremes Merkmal der Narkolepsie: Ereignisse, die Emotionen wie große Freude und Begeisterung, Lachen, Wut oder auch Schreck in ihr verursachen, lassen Hannahs Muskeln kurzzeitig erschlaffen. Zu Beginn war es einfach nur ein kurzes Zucken an punktuellen Stellen. „Das war ungefähr so, als würde man mir ständig mit einem kleinen Hammer an die Kniescheibe klopfen, nur eben im gesamten Körper. Ich konnte lange Zeit überhaupt nicht einschätzen, was das ist oder woher das kommt.“ In stark ausgeprägten Fällen können diese Muskeltonus-Verluste bei Betroffenen bis zu dreißig Minuten andauern – so weit ist es bei Hannah allerdings noch nicht.

 

„Ich wünschte, nur einer hätte mal zugeben können, dass er einfach keine Diagnose hat!“

 

Ein Ärztemarathon begann: Vom Hausarzt bis hin zum Neurologen, jeder Arzt versuchte ihre Symptome anders zu erklären: eine nichtfunktionierende Schilddrüse, Stress und Überarbeitung. Sogar Borderline wurde als Option herangezogen. „Die meisten meiner Ärzte waren bodenlos renitent und uneinsichtig. Ich wünschte, nur einer hätte mal zugeben können, dass er einfach keine Diagnose hat!“ Hannah wurde wütend, sie fing an ihre Krankheitserscheinungen zu googeln. Sie stieß beim wiederholten Klicken auf den Wikipedia-Artikel über Narkolepsie. Als sie dort symptomatische Kataplexien beschrieben sah, dämmerte ihr, was die Ursache für ihre Albträume und den ständigen Halbschlaf sein könnte. „Kataplexien sind ausschließlich Ursache von Narkolepsie. Meine Selbstdiagnose stand damit – die darauf folgende Diagnose vom Arzt war nur noch ein Einrasten.“

Die Narkolepsie war ein Schock. Erst mit der Zeit begriff sie, was das für ihre Zukunft bedeutet. Kein Autofahren, kein alleine leben, Übernachtung mit jemand anderem im selben Bett sind schwer bis unmöglich. „Es schränkt mein Leben massiv ein, bis hin zur absoluten Unselbstständigkeit. Es hat Auswirkungen auf Freundschaften, auf meine Beziehung, auf meine Persönlichkeit. Diese Krankheit hat mich wirklich komplett verändert.“ Medikamente könnte sie nehmen, allerdings versucht sie bis auf ihren Marihuana-Konsum alles Medikamentöse zu vermeiden. Antidepressiva verschlimmerten ihre Kataplexien, alles andere gegen die Narkolepsie ließ sie körperlich zu sehr leiden und ist auf Dauer extrem schädlich. „Manchmal kam ich nicht drum herum, Medikamente gegen meine Tagesmüdigkeit zu nehmen. Die wirken so ähnlich wie Speed – tatsächlich war ich aber eher drauf wie eine Crystal Meth-Abhängige.“ Hellwach, aber ausgezehrt fühlte sie sich. „Ich habe viel Gewicht verloren. Dieses künstliche Wachhalten ist einfach nicht gesund.“ Hannah bezeichnet ihre Krankheit als einen idealen Fall für das Legalisieren von Marihuana. „Seit ich auch tagsüber kiffe, ist meine Einschlafneigung über den Tag weit geringer. Ich kann meinen Kopf viel besser sortieren und mich auf das Wesentliche fokussieren.“

Neben den Depressionen kamen auch Suizidgedanken: „Weil ich nicht im Rollstuhl sitze können es die Leute nicht glauben, dass ich gewisse Sachen nicht kann. Es fehlt für so etwas absolut das Bewusstsein in der Gesellschaft. Ich beobachte ständig die automatische Annahme, das Gegenüber sei einwandfrei gesund.“

 

„Körperliche Unversehrtheit nehmen wir vor allem in der Jugend als Standard hin“

 

Über die Jahre hat Hannah wieder an Lebensenergie getankt. Sie hat verstanden, dass es weitaus schlimmere Krankheiten gibt als die Narkolepsie. Ihr Studium der Philosophie hat sie fast abgeschlossen, an ihrer Universität sind nun sämtliche Dozenten und Kommilitonen im Bilde ihrer Einschlaf-Attacken. Auch durch die Geisteswissenschaften hat sie gelernt, ihre Krankheit als solche zu akzeptieren. Sie fühlt sich reflektierter und reifer als zuvor, sie scheint vor allem, was auf sie zukommt, gewappnet zu sein. Obwohl Narkolepsie keine direkte Verkürzung der Lebenserwartung bedeutet, weiß Hannah durchaus, was es mit dem Körper macht, nur drei bis fünf Stunden pro Nacht zu schlafen. Zu wenig Schlaf beschreibt sie als Raubbau am eigenen Körper. Ihr ist bewusst, dass Schlafentzug Langzeiterkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck und Stoffwechselstörungen birgt. „Körperliche Unversehrtheit nehmen wir vor allem in der Jugend als Standard hin – solange bis dir die Natur das Gegenteil beweist“, sagt Hannah leise.

„Wenn mich Leute fragen, wie ich mir meine Zukunft vorstelle, dann antworte ich immer nur: Wie stellst DU dir denn deine Zukunft vor? Niemand kann sicher die Hand dafür ins Feuer legen, später mal einen guten Job zu bekommen oder als Frau nicht allein erziehend zu enden. Wenn du morgen unter einem Bus liegst, dann sind deine sämtliche Pläne auch für den Arsch!“ Hannah blickt mir wieder in die Augen: „In einer Welt, in der die Leute etwas flexibler sind, bin ich Superman.“