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Vertraute Fremde: Das Leben mit Gesichtsblindheit

Stell dir vor, alle Menschen würden für dich gleich aussehen. Egal, ob es sich um Freund*innen, Familie oder Kolleg*innen handelt – für dich wäre es schwierig zu erkennen, wer wer ist. Dies ist die Realität für mindestens 2,5 Prozent der Bevölkerung, die unter der sogenannten Prosopagnosie leiden, umgangssprachlich auch als Gesichtsblindheit bekannt.

Wobei der Begriff der „Gesichtsblindheit“ nicht gänzlich zutreffend ist. Personen, die an Prosopagnosie leiden, können durchaus Gesichter identifizieren, Gesichtsausdrücke interpretieren und Gesichtszüge verstehen. Jedoch haben sie Schwierigkeiten zu wissen, welches Gesicht zu welcher Person gehört. Lediglich Merkmale wie der Gang, die Stimme oder die Frisur können Aufschluss darüber geben, um welche Person es sich handelt.

Zwei Hauptursachen können zur Prosopagnosie führen: Zum einen kann sie als Folge eines Unfalls auftreten, beispielsweise nach einem Schlaganfall oder einer Hirnverletzung. Die meisten Menschen jedoch sind sich dessen gar nicht bewusst, da sie es von Geburt an erleben und nichts anderes kennen. Das entspricht einem Zustand ähnlich der Rot-Grün-Schwäche, bei dem die meisten Menschen in jungen Jahren nicht realisieren, dass es Menschen gibt, die Farben unterscheiden können, die sie selbst nicht unterscheiden können.

Gestörte Informationsverarbeitung im Gehirn

Dieses Phänomen wurde erstmals 1947 von einem deutschen Neurologen wissenschaftlich beschrieben. Bei Patient*innen mit schweren Kopfverletzungen wurde beobachtet, dass sie nicht in der Lage waren, bekannte Gesichter oder gar ihr eigenes Spiegelbild zu erkennen. Die Ursache dieser Störung liegt in einer beeinträchtigten Informationsverarbeitung im Gehirn. Interessanterweise beschränkt sich diese Leistungsschwäche ausschließlich auf Gesichter, während Menschen, die an einem solchen Gendefekt leiden oder ihn durch einen Unfall erwerben, dennoch problemlos Gegenstände identifizieren können.

Dieser Unterschied ist vor allem auf die Komplexität zurückzuführen, die beim Erkennen von Gesichtern erforderlich ist. Beim Betrachten eines Gesichts werden gespeicherte Informationen abgerufen und mit dem aktuellen Bild verglichen. Bei erfolgreicher Übereinstimmung wird das Gesicht identifiziert, und zusätzliche Informationen aus dem Gedächtnis wie beispielsweise Erinnerungen an vergangene Begegnungen werden aktiviert.

Im Gegensatz dazu basiert die Erkennung von Gegenständen hauptsächlich auf spezifischen Details wie Ecken oder Kanten, während beim Erkennen von Gesichtern ein allumfassender Eindruck von entscheidender Bedeutung ist. Dementsprechend sind verschiedene Bereiche des medialen Temporallappens für diese unterschiedlichen Prozesse verantwortlich.

Keine Aussicht auf Heilung

Bisher gibt es keine bekannte Heilung für Menschen, die an Prosopagnosie leiden. Die betroffenen Bereiche des Gehirns können nicht medizinisch repariert werden. Jedoch können verschiedene Ersatzstrategien entwickelt werden, um das Leben mit dieser Diagnose zu erleichtern. Andere Identifikationsmerkmale wie die Stimme oder die Bewegungen bestimmter Personen können dabei hilfreich sein. Insbesondere Kinder können von einer frühzeitigen Diagnose profitieren, um im Laufe ihres Entwicklungsprozesses verschiedene Hilfsmechanismen zu erlernen. Darüber hinaus ist es vorteilhaft, offen über die Erkrankung zu sprechen, um Freund*innen, Familie und Kolleg*innen für das Krankheitsbild zu sensibilisieren.

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