Erinnerungen an Vater

365 Tage ohne dich – Erinnerungen an meinen Papa

Von Annick Detambel 

Mein Papa sah aus wie Bruce Willis. Eine schmerzhafte Erkenntnis, die ich zusammen mit meinem Bruder im Kino gemacht habe, als wir den Film „Glass“ anschauten. Das verschmitzte Lächeln, die Glatze. Er sah wirklich aus wie Bruce Willis.
Mein Papa ist vor einem Jahr gestorben. An Darmkrebs mit multiplen Metastasen. Heute sind es 365 Tage, die ich ohne ihn verbracht habe. Jeder sagt, er hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Ich sehe das nicht so. Er hat nicht verloren. Er hat sich dem Krebs tapfer gestellt, so lange er konnte. Und ließ dann los.
Mein Papa ließ sich von nichts unterkriegen. Weder vom schlechten Wetter oder von den 2328 Kalorien in der Schwarzwälder Kirsch Torte, noch von Darmkrebs. Mein Papa verliert nicht.

 

Das, was war

Wenn ich an die Wochen vor seinem Tod denke, erscheint mir alles ganz verschwommen. Mir entglitt jegliches Gefühl für Zeit und Raum, ich funktionierte nur noch. Ich war mitten in meinem Masterstudium in Paris. Die Krankheit und die Sorge um meinen Papa im Nacken. Andere in meinem Alter genießen das Studentenleben und sind nur auf Reisen. Ich fahre meinen Papa zur Chemo. Komme jedes Wochenende heim, um so viel Zeit wie möglich Zuhause zu verbringen. Versuche mir langsam jedes Fältchen und jede Besonderheit seines Gesichts einzuprägen, damit ich mich so lange wie möglich daran erinnern kann.
Nach unserem letzten gemeinsamen Familienurlaub am Meer ging alles ganz schnell. Wassereinlagerungen hieß es. Die Nieren fangen an zu versagen, sagten die Ärzte. Ihr Vater hat sich auf den Weg gemacht, sagten die Hospizmitarbeiter. Wir alle wussten schon bei Diagnosestellung, dass dieser Moment irgendwann kommen würde. Aber irgendwann ist etwas ganz anderes als jetzt. Ich weiß nicht wohin mit mir, mit meinen Ängsten, mit meiner Trauer und meiner unendlich großen, existenziellen Panik meinen Papa zu verlieren. Mein Papa ist doch eigentlich unkaputtbar und immer da. Für jede noch so kleine Motte, die er mir nachts um 3 aus dem Zimmer entfernen musste. Er war immer da. Und mein Held.

 

Heimweh nach dir

Wenn mich jemand fragt, wie ich mich fühle, dann sage ich: Es geht mir gut. Das ist die bequemere Antwort. Nur Wenige aus meinem Umfeld wissen, dass das oft eine gutgemeinte Lüge ist. Es ist schwer den Menschen klar zu machen, wie groß der Verlust tatsächlich ist. Ich kann niemandem wirklich erklären, wie es ist, seinen Vater zu verlieren, der es nicht selbst schon erlebt hat.
Trotzdem versuche ich manchmal meine Gefühlslage zu beschreiben, indem ich sage, dass mein Papa für mich oft die Insel im offenen Meer war. Ich musste schwimmen, gegen die Wellen ankämpfen, aber hatte auf der Insel dann immer die Möglichkeit durchzuatmen. Mich von den Strapazen und Ungewissheiten des Lebens zu erholen.
Diese Insel gibt es jetzt nicht mehr. Ich bin alleine im offenen Meer und muss lernen zu schwimmen. Ohne Schwimmflügel. Ohne Insel zum Ausruhen. Das ist nicht leicht. Denn manchmal braucht man einfach seinen Vater.
Er hat sich immer gewünscht zuhause zu sterben. Wir wollten ihm diesen Wunsch erfüllen, auch wenn das für uns hieß, dass wir 3 Wochen nicht schlafen, kaum essen und starr sind vor Angst. Die palliative Versorgung kam erst einmal, dann zweimal pro Tag. Er wurde immer schwächer, immer dünner. Konnte nicht mehr sprechen und war nur am schlafen.
Ich wachte auf und hatte Angst. Ich ging schlafen und hatte Angst. Schlaf war mein Opium. Die wenigen Stunden, in denen ich dem Gefühlskarussel nicht unterlegen war. Am 4. März um 20:28 Uhr ist er schließlich in unseren Armen gestorben.

 

Wenn ich nur könnte

Wenn ich an meinen Papa zurückdenke sehe ich seine glänzenden Augen, wenn er von etwas erzählte, was er liebte. Oder das Gefühl, wenn er seine knöchrige aber schöne Hand auf meine Schultern legte, um mir Mut zuzusprechen. Wenn ich an meinen Papa zurückdenke, sehe ich sein herzliches Gesicht vor mir, das mich manchmal mitleidig, manchmal herzerwärmend ansieht und sagt: Mach dir doch nicht immer so viele Gedanken, mein Kind. Für mich war er perfekt. Ein richtiger Papa eben.
Wenn ich heute die Möglichkeit hätte noch ein Mal mit meinem Papa zu sprechen, ich würde ihm sagen, dass ich meinen Hut ziehe. Dass ich noch nie einen Menschen getroffen habe, der so viele Spuren in den Herzen anderer hinterlassen hat und der so ein gutes und reines Herz hatte, wie er. Ich würde ihm sagen, dass ich mir für mich keinen besseren Papa hätte wünschen können und dass ich ihn lieb hab. Und dass er mir fehlt. Für immer.

 

Das, was bleibt

Auch nach 365 Tagen ohne ihn wurde der Schmerz nicht weniger, nein. Der Schmerz verändert sich. Was zu Beginn ein stechender, endlos ziehender Schmerz war, ist mittlerweile eine dumpfe Leere, die ich und niemand anderes zu füllen vermag. Ob die Leere weg geht? Ich denke nicht. Dafür war mir mein Papa zu wichtig. Aber das ist auch gut so. Der Schmerz muss gefühlt werden, denn er ist eine Nebenwirkung von Liebe. Es wäre schlimm, wenn es nicht so weh tun würde.
Auch ein Jahr nach seinem Tod fehlt er mir jeden Tag. Und das wird er auch für immer. Es kommt und geht in Wellen. Es gibt Tage, da holt dich die Welle mit voller Wucht ein, reißt dich mit und zieht dich runter. Und es gibt Tage, da sehe ich meinen Bruder an und finde die Augen meines Papas wieder. Und dann denke ich mir: Irgendwie ist er immer noch da. Er ist ein Teil von uns.

 

Ein neues Leben

Und wie lebt man nun weiter ohne einen Papa? Man tut es einfach. Es gibt kein Patentrezept zur Linderung der Trauer. Für mich gibt es heute nur noch ein davor und ein danach. Es ist einfach ein neues Leben, welches ich mit dem alten noch nicht vereinbaren kann. Alles ist anders. Noch vor 2 Jahren war es für mich selbstverständlich mit meinem Papa zu frühstücken. Heute ist es für mich genauso selbstverständlich neue Blumen an sein Grab zu bringen. Die Anwesenheit meines Papas war damals genauso alltäglich, wie seine jetzige Abwesenheit alltäglich zu werden scheint. Die Kunst ist, zu lernen, mit dieser unstillbaren Sehnsucht zu leben. Und zu akzeptieren, dass der Tod, auch der eines geliebten Menschen, die unausweichliche Konsequenz des Lebens ist.

 

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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz