„Dear Mom & Dad“ – Bilder einer verletzten Kindheit

Die russische Fotografin Kseniya Apresian lässt in ihrer Bildstrecke „Dear Mom & Dad“ die verletzten, inneren Kinder von Menschen aus schwierigen Verhältnissen sprechen. Neben berührenden Fotografien, entstanden aufwühlende Gespräche über die Erinnerungen an eine schwere Kindheit und die damit verbundenen Emotionen der Protagonisten. „Meine Mutter war kein guter Mensch. Sie log viel und nutzte mich die ganze Zeit aus. Sie hat so viel falsch gemacht, ich bin immer noch im Prozess, um ihr zu vergeben“, sagt eine von ihnen. Uns erzählt Kseniya, dass auch sie es als ein „Kind der Perestroika“ nicht leicht hatte und diese Portraitreihe schließlich fast wie eine Therapie für sie war.

ZEITjUNG: Was bedeutet Kunst für dich?
Kseniya Apresian: Ich komme eigentlich aus der Werbebranche. Die Fotografie ist ein Weg, etwas für mich alleine zu schaffen und nicht für einen großen Kunden wie WWF oder Maybelline. Alle meine Projekte sind sehr persönlich, intim und zeigen Themen und Ideen, die mir wichtig sind.

Was magst du am meisten an der Fotografie?
Dokumentierende Fotografie befindet sich an der Grenze zwischen Kunst und wissenschaftlicher Forschung. Ich mag es, dadurch mein Interesse an Menschen und ihren Geschichten auszudrücken. Auch in gestellten Portraits versuche ich, den Moment festzuhalten, in dem die Menschen vor der Linse – wenn auch nur für eine Millisekunde – vergessen wo sie sind und ganz sie selber sind. Das ist eine der schönsten und schwierigsten Aufgaben.

Wie kam dir die Idee für das Thema hinter “Dear Mom & Dad”?
Die Idee entstand, als ein guter Freund mir erzählte, seine Eltern hätten sein Kinderzimmer in eine christliche Bibliothek umfunktioniert. Da habe ich realisiert, dass die wenigsten hier eine schöne Kindheit hatten. Gerade hier in Berlin ist es so einfach, vor der Vergangenheit zu flüchten und sich zu verlieren. Ich meine, ein glückliches und geliebtes Kind würde wohl nicht seine Wochenenden im Berghain verbingen? Aber das Problem gibt es eigentlich überall, nicht nur in der Berliner Techno Szene. Als ich auf Facebook nach Leuten für mein Projekt suchte, merkte ich, dass Menschen allen Alters und verschiedener Nationalitäten mitmachen wollten.

Hast du auch eine schlimme Kindheit erlebt?
Ich denke für alle, die in den 90er-Jahren in Russland geboren sind, war die Kindheit nicht einfach. Die Soviet Union war kaputt, es gab keine Jobs, die Regale in den Supermärkten waren leer. Niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Wir sind die “Kinder der Perestroika”. Das Projekt war also wie eine Therapie für mich. Ich weinte, als ich die Interviews transkribierte, aber ich lernte auch viel über meine eigenen Verhaltensmuster und deren Zusammenhang mit der Vergangenheit.

Was sagen deine Bilder?
Die Bilder drücken die ehrlichen Gefühle der Protagonisten aus. Wir haben das Shooting und die Interviews gleichzeitig gemacht, das heißt, ich schoss die Portraits während sie sich an die Emotionen von damals erinnerten und ihre Geschichten nochmal durchlebten. Ich wollte alles im Stil einer verschwommenen Illusion aufnehmen, so wie auch die Erinnerungen meiner Models sind: Unscharf und in der Vergangenheit, aber dennoch beeinflussen sie ihre heutigen Entscheidungen und ihr heutiges Verhalten. In der Bearbeitung habe ich die Bilder schwarz-weiß gemacht, weil es eine melancholische Stimmung schafft und an alte Zeiten erinnert.

Welches ist dein Lieblingsbild des Projekts?
Das Erste hier ist mein Lieblingsporträit, weil es zeigt, wie unschuldig und schutzlos sich die Kinder fühlen. Mit meinem Therapeuten diskutiere ich das in fast jeder Sitzung: Wie du als Kind so abhängig bist von deinen Eltern, alles glauben musst, was sie sagen oder tun. Wenn sie dir sagen, du bist nicht gut genug oder du verdienst es nicht, geliebt zu werden, wirst du aufwachsen und genau diese Gedanken immer mit dir rumtragen. Die zu ändern, verlangt so unglaublich viel Arbeit.

 

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Bildquelle: Kseniya Apresyan