Allein sein Ablenkung

Ablenkung als Zwang: Halten wir es mit uns alleine nicht mehr aus?

Ich wäre gern ein besserer Mensch. Das heißt, ich wäre gerne nicht die Person, deren Blick alle zehn Minuten suchend durch den Raum schweift. Und das, obwohl ich gerade eigentlich ein Gespräch führe. Ich bin auf der Suche – nach was? Keine Ahnung! Ganz grob: Auf der Suche nach Ablenkung. Als klassisches Opfer des Refresh-Buttons und berüchtigte Fadenverliererin habe ich die geschätze Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfischs – sehr kurz also.

Aber ab wann ist Ablenkung wirklich eine Ab-Lenkung? Ein ganz einfaches Beispiel: Du beißt gerade genüsslich in deinen saftigen Burger und dein Freund fängt plötzlich an herzzerreissend zu schluchzen. Ganz klar: Du legst deinen Viertelpfünder weg und fragst, was los ist. Klassisch gesehen wäre der Heulkrampf eine Ablenkung. Unser Verstand sagt uns aber was wichtiger ist – natürlich die Freundschaft. (Oder?) Die Relevanztheorie setzt ein und sagt uns, was zu tun ist.

 

Wie schlimm wäre ein Tag ohne Smartphone?

 

Dass nicht nur ich unter dem ständigen Drang nach immer „mehr“ als der aktuellen Konversation leide, merke ich, als ich mich mit einer Freundin „auf einen Kaffee oder zwei“ verabrede. Während ich von meinem, zugegebenermaßen wenig spannenden, Wochenende erzähle, hat sie das Handy immer im Blick und in Greifnähe. Unmittelbare Ablenkung und permanente Erreichbarkeit treffen sich und werden zum Gesprächs-Killer. Die Frage, die offen bleibt: Ist unser Verhalten eine Konzentrationsschwäche, also medizinisch bedingt, oder geht es um mehr: Ist eine bewusste Entscheidung zur Ablenkung das eigentliche Problem? Sind wir einfach zu gelangweilt von dem, was um uns herum passiert? Wie konnte es passieren, dass wir uns unwohl fühlen, wenn wir das Handy beim Klopapier kaufen mal zu Hause vergessen haben? Wie kann es sein, dass ich mich lieber die vier Stockwerke zu meiner Wohnung wieder hoch schleppe um das vergessene Telefon zu holen, als einen Tag in der großen weiten Welt ohne Smartphone zu verbringen?

 

Treffen sich Langeweile und Neugierde…

 

Ganz schnell schmeißen Menschen vom Fach (und unsere besorgten Großeltern) dann mit dem Begriff der „Medialen Konzentrationsschwäche“ um sich. Eine Studie der Michigan State University belegt, dass die Fähigkeit der Generation Y, sich auf eine Sache zu konzentrieren durch Medien und ständige Erreichbarkeit leidet. Push-Nachrichten und sonstige kurze Benachrichtigungen unterbrechen den Gedankenstrom und die Leistung verschlechtert sich. Auf über zehn Seiten beschreiben die Forscher, was uns eigentlich schon lange klar ist: Willst du lernen – surf’ nicht im Internet. Willst du dich mit jemandem unterhalten – steck dein Handy in die Tasche und lass’ es dort. 

 

Die Sucht nach Ablenkung

 

Smartphone – schön und gut, aber wenn wir mal ehrlich sind, kennen wir alle Situationen, in denen wir verschiedenste Ablenkungen nutzen, um einfach nicht alleine zu sein. Einsam will keiner sein und davon abzulenken ist verdammt einfach geworden. Berge von Medien lullen uns ein und malen uns in den buntesten Farben die schöne Illusion, nicht alleine zu sein. Es sieht so aus als könne Ablenkung die Einsamkeit vollkommen auslöschen. Hängt man sich so richtig rein, ist es sogar möglich tagelang alleine zu sein, ohne es zu merken: Internet ist der Schlüssel zum Glück.

Ich spreche mit Professor Dr. Wulf Schiefenhövel, ein Anthropologe, der unter Anderem ein Buch mit dem schönen Titel „Vom Affen zum Halbgott: Der Weg des Menschen aus der Natur“ veröffentlicht hat und suche nach Antworten. Auch er beschreibt die Sucht nach Ablenkung als ein interessantes und erklärungsbedürftiges Phänomen. Er nehme an es hat mit unserer ausgesprochen stark entwickelten Neugier zu tun, die auch Tiere haben, die aber bei uns bis ins hohe Alter vorhanden und ein Selektionsvorteil ist. Klar, interessierst du dich für nichts mehr, wird es schwer morgens das warme Bett zu verlassen, aber oft schlägt Neugierde in Ablenkung um und wir erkennen nicht mehr, was wirklich wichtig ist: Das Hier und Jetzt. 

 

Einsamkeit als Auslaufsmodell

 

In einer Zeit in der Menschen täglich vom Rand der Gesellschaft ins Abseits rutschen ist es gleichzeitig so einfach geworden jederzeit auf sich aufmerksam zu machen. Schreie nach Aufmerksamkeit werden in irgendeiner dunklen, verstaubten Ecke des Internets immer gehört: Keiner muss mehr alleine sein, wenn er es nicht möchte. Es geht bei Tinder los und endet in gruseligen Internetforen. Einsamkeit ist ein Auslaufmodell geworden: Permanente Ablenkung winkt uns an jeder Ecke mit freudiger Erwartung zu. Keine Zeit Trübsal zu blasen: Schnell weiter zum nächsten geilen Hinterhofrave. Denn das Überangebot an Events ist der nächste Schritt zur absoluten Beschäftigung. Keine Lücke entstehen zu lassen ist wahrscheinlich noch nie so einfach wie im Jahr. Montag bis Sonntag feiern zu gehen: Kein Problem, das Angebot ist da. Die Möglichkeiten unbegrenzt. Die Reizüberflutung naht.

 

Halten wir es alleine nicht mehr aus?

 

„I go to loud places to search for someone to be quiet with.“ Schon mit der ersten Zeile des Songs „Loud Places“ spricht der fantastische Jamie xx einer ganzen Generation aus der Seele: Rausgehen, um irgendwann vielleicht nicht mehr alleine nach Hause zu gehen. Wahrscheinlich ist es ein Zusammenspiel aus beidem: Der Möglichkeit jederzeit Ablenkung zu finden und dem „Ur-Wunsch“ nicht einsam zu sein. Denn wer möchte das schon? Hier können wir nur spekulieren, aber vermutlich hätten sich unsere Eltern also vor 30 Jahren schon in genau denselben Situationen befunden, mit denen wir heute zwischenmenschlich zu kämpfen haben. Es war bloß einfach noch nicht möglich.

Nicht umsonst haben sie uns schon damals zwischen Gemüsesuppe und Omas gutem Geschirr eingebläut: „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ Was sie meinten: Konzentriere dich auf eine Sache und nicht auf mindestens drei gleichzeitig. Und wie Recht sie hatten – also erhebt euren Kopf, blickt eurem Gegenüber in sein schönes Gesicht und lasst euch auf das Gespräch ein. Vielleicht wird es ja besser als jede scheinbar noch so geile lauernde Ablenkung je sein könnte.

 

 

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Bildnachweis: Joe St. PierreInstagramFacebookFlickr