Flüchtlingscamp Calais Mann mit Akkordeon vor Polizei

In Frankreichs Flüchtlingscamps: Jahrelang im Schlamm?

Menschen, geprägt von Krieg und Hunger, fliehen aus ihrem Land in der Hoffnung auf ein neues Leben oder zumindest eine bessere Situation. Doch was die Menschen in den Aufnahmecamps teilweise erwartet, ist absolut menschenunwürdig. Zu den am stärksten kritisierten Camps gehören der „Dschungel von Calais“ und sein Schwestercamp in Grande-Synthe, etwa 40 Kilometer entfernt.

ZEITjUNG hat mit Sebastian, einem Non-Profit-Management-Studenten, über seine Erfahrungen als Volunteer gesprochen. Für ein sogenanntes Scouting der IHA, der „Intereuropean Human Aid Association“, fuhr er nach Frankreich, um die dortigen Bedürfnisse zu klären, bei denen diese Organisation aushelfen kann. Dafür legte er sogar ein Urlaubssemester in seinem Studium ein. Die IHA ist eine Hilfsorganisation, die, basierend auf Spenden, wichtige Güter an Menschen in Not bringt und freiwillige Helfer an Orte schickt, an denen Hilfe benötigt wird.

Die Erlebnisse in mehreren Flüchtlingslagern auf der Balknaroute konnten den Studenten jedoch nicht auf die Situation vorbereiten, die ihn in Grande-Synthe erwartete. Mit einfachen Worten beschrieben: Schlamm und Zelte werden dort eins. „Sie wohnen auf einer Müllhalde. Aber einer Müllhalde, die im Matsch versinkt“, schildert Sebastian seine ersten Eindrücke. Es gibt zwei Wasserstellen für rund 2000 Menschen, der Zustand der Sanitäranlagen ist katastrophal. Das Camp in der Hafenstadt Calais geriet in einen Zustand, über den die Regierung keine Kontrolle mehr hatte und auch die Beschwerden der Einheimischen wurden immer lauter. Die Situation führte zu dem Beschluss eines französischen Gerichts, das Camp räumen zu lassen. 

Die Strukturen sind nicht wie in anderen Flüchtlingscamps

 

Die Sicherheitslage dort ist kaum zu vergleichen mit anderen Flüchtlingscamps, denn: Es herrscht eigentlich gar keine Sicherheit. Das sieht Sebastian als die eigentliche Grundproblematik in dem Schwesterncamp Grande-Synthe. Stark ausgeprägt sind hier die mafiösen Strukturen. Unterdrückungen und Drohungen gehören zum Alltag, etwas daran ändern kann eigentlich niemand. Außer die Polizei, die hält sich aus dem Geschehen auf dem Gelände gänzlich raus.

Einzig am Eingang stehen Sicherheitsbeamten, um eventuelle Schmugglereien zu kontrollieren. Auch Minderheiten, wie iranische Flüchtige werden in ihrem Alltag stark eingeschränkt und unterdrückt. Durch den langen Aufenthalt an diesem Ort haben sich, im Gegensatz zu anderen Camps, Machtverhältnisse mit eigenen Regeln gebildet und verfestigt.

Alles, was die freiwilligen Helfer und Bewohner tun können, ist zusehen und die Sicherheit der Menschen vor andere Bedürfnisse stellen. So kommt es auch vor, dass sich unterdrückte Minderheiten einige Zeit nicht aus ihren Zelten trauen aus Angst vor gewalttätigen Übergriffen. Es kommt vor, dass nachts Schüsse zu hören sind, die Speisekammer angezündet oder Kleidung gestohlen wird. Da kommen selbst bei den Helfern Zweifel an ihren Handlungen auf.

 

Ihr einziges Ziel ist England

 

Bei den Einwohnern der nordfranzösischen Stadt stellt Sebastian hauptsächlich positive Einstellungen gegenüber den Neuankömmlingen fest, es wird im Camp auch mal mit angepackt. Was die Einheimischen eher beunruhigt, ist das Verhalten von Stadt und Staat. Es herrscht Unverständnis darüber, wie solch ein Elend in ihrem Land überhaupt existieren und zugelassen werden kann. Nun soll auch das Flüchtlingslager in Grande-Synthe geräumt und die Menschen in ein neues Camp nur wenige Meter entfernt umgesiedelt werden, wie Sebastian uns berichtet. 

Laut dem Bürgermeister wird das Ganze unter einem freiwilligen Umzug ablaufen. Sebastian bezweifelt das allerdings. Er bekommt die Angst der Menschen zu spüren, gewaltsam vertrieben zu werden und ihr Hab und Gut zu verlieren. „Sie nehmen in Kauf, monate- und jahrelang im Schlamm zu hausen unter unvorstellbaren Bedingungen, um irgendwann nach England zu kommen“, beschreibt er die Einstellungen der Flüchtlinge. Dieses Land ist ihr einziges Ziel. Wenn sie jetzt in Frankreich registriert werden, bleibt ihnen eine Einreise nach England womöglich verwehrt.

Es scheint also, als würde sich diese „freiwillige Umsiedlung“ nicht ganz ohne Komplikationen gestalten. Ein weiteres Problemkind ist die Kommunikation, eine in dieser Situation besonders wichtige Grundlage. Der Volunteer erzählt von einem offiziellen Schreiben des Bürgermeisters auf Englisch, Französisch und Farsi, das an einem Infopoint hängt. Doch nicht alle sprechen oder schreiben diese Sprachen. Diese indirekte Bekanntmachung bietet keine hilfreichen Informationen, sie verbreitet nur Angst und Skepsis unter den Campbewohnern.

Und auf einmal hat man kein Dach über dem Kopf

 

Nach einer Woche Aufenthalt in Grande-Synthe treibt es den Volunteer nach Calais, wo ihn ein weiterer Schlag trifft: „Wenn man den ‚Dschungel von Calais‘ betritt, ist es wie eine kleine Stadt. Man fühlt sich wie in Brasilien in einem Slum.“ Hier sind die Verhältnisse zwar ein wenig besser mit Hütten als Unterkünften und befestigten Wegen, doch die Stimmung ist gleich. Calais ist wie eine „Stadt in der Stadt“, so Sebastian, mit Restaurants, Kirchen, Bibliotheken. Und trotzdem wird das Camp gerade aufgelöst.

Nachdem die Pläne zur Räumung eines Teils des Camps ausführlich überprüft wurden, begannen diese laut der Zeit am Montag, den 29. Februar. An diesem Tag traf auch Sebastian im Camp ein, um mit weiteren Volunteers, Aktivisten und Bewohnern gegen die Räumung zu protestieren. Er beschreibt die Situation als besonders deprimierend, in der den Demonstranten und Bewohnern nichts anderes übrig bleibt, als zuzusehen, wie die Hütten zerstört werden. Hütten, die nicht nur ein Dach über dem Kopf bieten, sondern auch einen kleinen Funken Hoffnung und das Gefühl von Sicherheit. Die Situation vor Ort eskaliert schnell. Es werden Steine geworfen, begleitet von Rufen und der Reaktion der Polizisten mit Tränengas. Die Räumung gerät genauso außer Kontrolle wie die komplette Organisation des Camps.

 

Wie geht es weiter mit den Bewohnern des „Dschungels“?

 

Es scheint, als sei die Regierung nicht mehr Herr der Flüchtlingskrise. Und wenn nicht die Regierung, wer dann? Früh morgens werden die Menschen aus dem Schlaf gerissen und dazu aufgefordert, ihre Zelte zu räumen. Der nächste Ort, an dem die Menschen landen, ist wohl ertsmal die Straße. Zwar spricht die Regierung von einer Verteilung der Geflüchteten auf andere Camps, doch es wird bezweifelt, ob diese genügend Platz für die Menschen bieten.

Auch die Flüchtlinge selbst sind nicht sehr begeistert von der Idee: Bei ihnen macht sich die Angst breit, in anderen Flüchtlingslagern registriert zu werden, was den Traum von England platzen lassen könnte. Hier von humanitären Bedingungen zu sprechen, wäre mehr als übertrieben. Und doch hat Sebastian viele positive Erfahrungen aus dieser Zeit mitgenommen. Ihn hat das Miteinander und Füreinander unter den Menschen begeistert, er wurde zum Essen und Übernachten in den Zelten der Familien eingeladen oder sprach mit ihnen über persönlichen Geschichten aus dem Leben vor der Flucht. Eine kurze Verschnaufpause gönnt sich Sebastian in seiner Heimat in Bayern. Denn schon in wenigen Tagen geht es weiter nach Kroatien, Griechenland oder Frankreich in der Hoffnung, den Menschen auf der Flucht eine Portion Mut zu schenken.