Sebastian Schramm Krebs Kolumne

Fürs Erste Krebs: Episode #6.1

Wodka-O auf dem Operationstisch

 

Gegen halb eins werde ich abgeholt. Oma huscht mit in den Fahrstuhl und hält meine Hand. Der Patientenkurier sagt nichts, lässt sie bis zum Eingang des OP-Traktes mitgehen. „Bis gleich, Basti“, sagt sie. Eine Tür schiebt auf, ich höre noch, wie Oma sich selber fragt, wie sie wieder zurückkommen soll. Ich werde umgebettet auf einen OP-Tisch, ein junger Mann schiebt mich in den Vorbereitungssaal. Drei Assistenten werkeln an mir: EKG legen, eine neue Kanüle, die in der Armbeuge sei eine Zumutung, schimpft die Anästhesistin. Schon nach ein, zwei Minuten merke ich, wie das Dormikum zu wirken beginnt. Alles ist ein wenig heller, ich schlafe nicht, bin aber auch nicht richtig wach. Ich erzähle dem gesamten OP-Saal von der Geschichte mit dem Wodka und dem Orangensaft. „Dann sollten wir dafür sorgen, dass genügend Nachschub da ist“, sagt einer der Operateure. Es wird der Running-Gag des Eingriffs. In losen Abständen fragen sie immer wieder nach, ob ich noch einen Drink wolle, immer stimme ich zu. Nach gefühlten fünf Minuten bin ich im Aufwachraum. Der geschwollene Lymphknoten ist entfernt. Er wird eingeschickt und auf Krebs untersucht. Mein Hals schmerzt, ich kann mich kaum bewegen. Paul, ein Pfleger von der Onkologie, holt mich ab. Es ist halb vier, ich war fast drei Stunden weg, die Narkose hat mir jegliches Zeitgefühl genommen. Der Chirurg sprach beim Vorgespräch von 45 Minuten. Am Eingang der Station wartet meine Familie. Ich hebe den linken Arm, strecke ihnen Mittel- und Zeigefinger entgegen. Keine Nerven durchtrennt. Alles okay.

18 Tage lag ich in der Schweriner Klinik, der längste Krankenhausaufenthalt meines Lebens. Jeden Tag Untersuchungen, Tests, Eingriffe, Gespräche oder Therapien. Der Ausnahmezustand wurde zur Routine. Dreimal schickten mich die Ärzte ins MRT: Sie suchten im Oberkörper nach weiteren Tumoren. Sie kontrollierten mein Herz, eine Stunde lang, an dem sich aufgrund des Befundes bereits Wasser angesammelt hatte. Sie entnahmen mir Knochenmark aus dem Beckenkamm, um zu sehen, ob mein blutbildendes System bereits befallen ist. Einen Lungenfunktionstest: 20 Prozent meiner Leistungsfähigkeit waren bereits eingebüßt. Sie legten einen zentralen Venenkatheter in den Hals, damit sie sofort mit der Chemotherapie beginnen können. Genutzt haben sie ihn nur zwei Tage. Danach schickten sie mich nochmals in den OP, um ein Implantat in die Brust zu setzen, die fünf weiteren Zyklen mit den giftigen Medikamenten wollten sie nicht über Hals- oder Armvenen verabreichen. Die Torturen haben Narben hinterlassen, nicht nur auf meiner Haut.

 

Mama in meiner WG

 

Aber da waren auch die schönen Dinge, die Unterstützung meiner Familie, Freunde, Arbeitskollegen, der Schwestern, der Pfleger. Jeden Tag bekam ich Besuch, nie war ich alleine. Meine Mutter wohnte während der Zeit in meiner Schweriner WG, immer gegen zehn Uhr morgens fuhr sie zu mir, bepackt mit einem Rucksack: frischer Tee, ein bisschen Obst, ab und zu einen Salat, vielleicht eine Zeitung, damit sie sich die Zeit vertreiben konnte, wenn mir durch die Chemotherapie schon vor dem Mittagessen die Augen zugefallen waren. Oder ich schickte sie in die Stadt, zum Bummeln. Sie sollte den Kopf frei bekommen. Mama gönnte sich Schuhe, ein schönes Mittagessen, Kaffee, der die Bezeichnung verdiente. Und dann kam sie zurück. Jeden Tag habe sie einmal tief durchatmen müssen, bevor sie die Onkologie betreten hat, erzählte sie mir Wochen danach. Aber immer mehr wurde das Krankenhaus zu unserer Normalität, zum vorübergehenden Zuhause. Wir gehörten dazu.