Sebastian Schramm Krebs Kolumne

Fürs Erste Krebs: Episode #6.1

Nur fünf Buchstaben. Sie reichen aus, um ein Leben für immer zu verändern. Was aber, wenn das Leben noch gar nicht richtig begonnen hat? Sebastian Schramm ist 26 Jahre alt – und leidet an Krebs. Von nun an teilt er auf ZEITjUNG seine Gedanken, Erlebnisse und Anekdoten über die Zeit mit einer Krankheit, die in Deutschland jährlich eine Großstadt auslöscht. Heute: Teil 6.1 – Die Biopsie. Teil 12 , 3, 4 und 5 findet ihr hier.

Wochenenden im Krankenhaus sind die reinste Zeitverschwendung. Nichts passiert, die Stationen sind spärlich besetzt, ein paar Schwestern, vielleicht ein oder zwei Ärzte. Wie gerne ich das fühlte: Zeit, die mir bewusst vorkommt, als würde ich sie verschwenden. Jetzt aber ist jede Sekunde eine Qual. Jede Bewegung der drei Zeiger bringt mich näher an die Operation am Montag. Ablenkung hilft nur schwer, sie ist sogar paradox: Für wenige Augenblicke denke ich an etwas anderes, während der Spaziergänge mit meiner Familie und meinen Freunden oder bei einem Stück Kuchen in der Cafeteria. Im nächsten Moment erschlägt es mich umso heftiger. Mir fällt es wieder ein. Die Biopsie. Wieder ein Schritt mehr in Richtung Beruhigungstabletten, Anästhesie, Operationstisch, Kontrollverlust. Wieder ein Schritt mehr in Richtung endgültiger Diagnose. Ich kann mich nicht wehren, in mir existiert nur der Montag. Alles, was danach kommt, gibt es nicht mehr. Als müsste ich eine Prüfung bestehen; nur noch ein Thema, ein Termin. Obwohl es den gar nicht gibt, jedenfalls nicht richtig.

 

Nowitzki skizziert den Weg

 

Im Laufe des Vormittags, sagten mir die Schwestern am Sonntagabend, würde es wohl passieren. Das könne um neun sein, wenn es schlecht läuft auch erst um eins oder später. Ich solle mich morgens frisch machen und das OP-Hemd anziehen und warten, bis ich abgeholt werde. Montagfrüh, gegen halb acht, bin ich fertig, liege nackt und nur mit dem Hemdchen bekleidet im Bett. Die Nacht war eine Katastrophe, mit im Krankenzimmer zwei ältere Herren, meine vorübergehende Krebs-WG, jeder schluckte Schlaftabletten, um jede Stunde wieder aufzuwachen. Meine Eltern und Oma sitzen bei mir. Ich habe Angst, versuche zu schlafen, wälze mich hin und her. Wir fragen eine Schwester, wann es losginge. „Keine Ahnung. Das kann ich Ihnen nicht sagen.“ Sei bald soweit, sagen wir uns immer wieder, um die Ungewissheit zu überspielen. Ein Klopfen reißt uns aus unseren Gedanken. „Du musst Sebastian sein?“ Die blauen Augen von Eva Nowitzki leuchten durch das Blond der Haare noch intensiver, ein offenes und herzliches Lachen, man fühlt sich wohl in ihrer Nähe, ohne sie zu kennen. Den knielangen, weißen Kittel trägt sie offen, darunter adrette Kleidung, als wolle sie sagen, sie gehörte nicht zu den Ärzten, die die Hiobsbotschaften überbringen. Nowitzki ist die Stationspsychologin.

Neben mir ist das Bett frei, sie setzt sich auf die Kante. „Manchmal hält das Leben nicht seine natürliche Reihenfolge ein“, beginnt sie. Den Raum durchzieht Stille. Mama, Papa, Oma, sie bringen kein Wort hervor. Und ich, ich bin verwirrt, weiß nicht, wohin sie mit dem Gespräch will. Sie spürt meine Angst. Nach ein wenig Smalltalk schickt sie alle aus dem Zimmer und steckt mir eine halbe Tablette zu. Ich soll sie auf der Zunge zergehen lassen. Nowitzki fragt nach meinen Plänen und Träumen, was ich bislang in meinem Leben erreicht habe. Ich erzähle ihr alles, mit jeder Minute werde ich ruhiger und entspannter.

„Bald bist Du wieder gesund. Das hier alles wird wie ein Film, deine Familie, deine Freunde sind die Regisseure und du spielst die Hauptrolle. Mit Happy End.“
„Meinen Sie das wirklich?“

Der Morbus Hodgkin gehöre zu den heilbaren Erkrankungen, die Therapien sind erprobt und funktionieren, erklärt sie mir. Ich hätte ein festes Bild der Krankheit im Kopf, das müsse ich loslassen. „Chemotherapie ist nicht mehr nur Brechen und Leiden. Du wirst Sport machen können, vielleicht sogar arbeiten.“ Ich glaube ihr, auch wenn ich erst Wochen und Monate später am eigenen Leib erfahre, dass sechs Therapien eine Herausforderung sind, die selbst einfachste Dinge zu unüberwindbaren Hürden anwachsen lassen. Aber sie hat mir die existenzielle Angst genommen. Die, bald abberufen zu werden. Sie hat mir Hoffnung gegeben. Den Willen, wieder zurückzukommen, den Mut, zu kämpfen und zu gewinnen. Und sie bringt mich zum Lachen. Ich erzähle ihr, wie sehr ich mich vor der OP fürchte. Nowitzki grinst.

„Was trinkst Du denn gerne, wenn du auf Partys gehst?“
„Wodka mit Orangensaft“.
„Na, dann stell dir vor, dass Du gleich zwei davon getrunken hast.“
„Was, nur zwei? Dann merke ich ja noch alles!“