Holocaust-Überlebende: „Es ist nicht eure Verantwortung, was passiert ist. Aber es ist eure Verantwortung, was sein wird.“
Batsheva Dagan ist 93 Jahre alt und zum fünften Mal dieses Jahr von Israel nach Deutschland geflogen. Hier spricht sie mit Schülern über ihre Geschichte. Als polnische Jüdin wurde sie mit ihrer Familie dazu gezwungen, in Ghettos zu leben. Ihr gelang es zwar, als Teenager mit gefälschtem Pass zu fliehen, aber sie wurde verraten. Nach sechs verschiedenen Gefängnissen wurde sie in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Zu dem Zeitpunkt war sie siebzehn Jahre alt. 20 Monate später kam der Befehl zum Todesmarsch. Auch den überlebte sie und ging kurze Zeit später nach Israel, wo sie bis heute lebt. Dort wurde sie Kinderpsychologin und entwickelte Konzepte, wie man selbst mit jungen Schülern über den Holocaust sprechen kann. Obwohl sie schon so oft von sich und ihrer Arbeit erzählt hat, klingt keiner ihrer Sätze nach routinierter Wiederholung. Trotz des ernsthaften Themas lachen wir auch zwischendurch und ich merke: Sie gehört – trotz ihrer Erlebnisse – zu den Menschen, deren Strahlen den ganzen Raum ausfüllt.
ZEITjUNG: Frau Dagan, sie haben mehrere Kinderbücher geschrieben und pädagogische Konzepte für die Holocaust-Education entwickelt. Warum?
Batsheva Dagan: Früher habe ich im Kindergarten gearbeitet. Die Kinder haben meine tätowierte Nummer auf dem Arm gesehen und gefragt: Was ist das? Sie haben eine Antwort verdient. Jetzt habe ich schon viele Jahre nicht mehr in einem Kindergarten gearbeitet. Aber ich war mal wieder in einem, um mit den Kindern zu sprechen. Sie sollten ihre Eltern und Großeltern vorher nach dem Holocaust fragen, um Interesse für das Thema zu generieren und dann habe ich mit ihnen geredet.
Wie sprechen Sie mit Schülern über den Holocaust?
Zuerst frage ich sie, was sie wissen. Meistens wiessen sie viel mehr als wir Erwachsenen denken, denn ihr Zugang zu den Medien ist offen. Dann frage ich, woher sie das wissen und was sie wissen möchten. Einmal haben mich Schüler gefragt, ob wir im Lager Toilettenpapier hatten. Da konnte ich nur lachen. Wir hatten Finger und die Wände waren beschmiert. In meinem Buch „Gesegnet sei die Vernunft, verflucht sei sie“ habe ich es gewagt, den Scheidungen des Körpers ein Kapitel zu widmen. Darüber wissen die Leute offenbar nichts, wenn sie so eine naive Frage stellen.
Ein Schüler hat mich sehr beeindruckt. Er hat bei einem Projekttag ein Gedicht darüber geschrieben, dass die junge Generation nicht vergessen, sondern weiter erinnern sollte. Er hat mir gezeigt, dass das, was ich mache richtig ist. Das ist es, was ich jungen Mensch sagen möchte: Es ist nicht eure Verantwortung, was passiert ist. Aber es ist eure Verantwortung, was sein wird.
Als Sie ins Ghetto und später ins Lager kamen, waren Sie noch ein Teenager. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Mir hat man das Lernen weggenommen. Als die Nazis Polen erobert haben, haben sie die Schulen geschlossen. Ich habe die Schule sehr geliebt. Nicht lernen zu können, war ein großer Schmerz. Und in Auschwitz war ich in der Hölle. Ich war hungrig, entwürdigt und beim Anblick des Rauches aus den Krematorien habe ich mich gefragt: Was für ein Rauch wird da raus kommen, wenn man mich vergast und verbrennt? Und trotz allem war der Wille zum Überleben so groß.
Was hat Ihnen den Willen zum Überleben gegeben?
Zwei Sachen haben mich überleben lassen: zu lernen und Freundschaften zu haben. In Auschwitz wurden so viele Sprachen gesprochen. Ich habe eine Belgierin getroffen und habe ohne Stift und Papier gelernt. Als ich Auschwitz verlassen habe, konnte ich fließend französisch sprechen. Ich habe mir also etwas gesucht, was mir den Sinn des Lebens und des Leidens gegeben hat. Ich habe auch Gedichte gelernt, die die Häftlinge verfasst haben. Mein Überleben ist nicht typisch, nicht jeder hat sich solche Inhalte gesucht. Ich musste meine Seele mit etwas füttern, ich musste denken, denn über das Böse konnte ich nicht nachdenken. Das war die erste Sache. Die zweite war Freundschaft. Ich habe in vier Kommandos gearbeitet. Im Kräuterkommando haben wir mit bloßen Händen Brennnesseln gepflückt, daraus wurde Tee gekocht. Wir waren acht Mädchen und mussten zwei Brote teilen. Wenn ich auf etwas stolz bin, dann darauf, dass man mich gewählt hat, das Brot zu teilen. Diese Hände haben das besser geschnitten als eine Maschine und ich habe in der Schlange die restlichen Brösel verteilt. Sieben Paar hungrige Augen haben mir geglaubt und vertraut in einer Welt, in der man an nichts geglaubt hat. „Wo ist Gott?“ haben wir gefragt, wenn er das alles sieht. Wir haben gelacht und gesagt Gott ist im Urlaub, er hat keine Zeit jetzt. Im Kartoffelkommando habe ich 50-Kilo-Säcke geschleppt. Im Revier, dem Krankenhaus des Lagers war ich „Scheiße-Trägerin“. Wir haben die Exkremente der Kranken in Eimern gesammelt und in die Latrine gebracht. Das war unser Reich, denn die Aufseher haben sich geekelt, da reinzukommen. Dort haben wir über Freiheit und Träume gesprochen und wir haben gelacht und uns selbst ausgelacht. Meine zweite Arbeit im Revier war, auf die Pritschen zu klettern und die Körper zu berühren, um fest zu stellen, ob sie warm oder kalt waren. Wenn er kalt war, habe ich ihn mit einem anderen Mädchen zusammen runtergetragen und auf einen Haufen gelegt. Heute kann ich keine Leichen mehr sehen.