„Ich bin die Stimme einer Generation, du Arschloch!“

Um ein Jahr verschoben, machte Sophie Passmann mit „Komplett Gänsehaut“ nun im Münchner WERK7 Halt. Die Autorin schreibt in ihrem aktuellen Roman vom Leben einer 27-Jährigen, nicht ganz von ungefähr, aber an diesem Abend erzählt sie vor allem aus ihrem eigenen.

„Ich habe das Gefühl, das eskaliert heute so richtig!“ Was klingt wie etwas, das hippe Autorinnen auf Lesereise eben so sagen, entpuppt sich als glatte Untertreibung. Später schiebt Sophie Passmann nach: „Ihr wärt erstaunt, wenn ihr mal bei einer normalen Lesung von mir wärt!“

Das Publikum bei dieser um ein Jahr verschobenen Lesung in München sei „erstaunlich geschlechtlich durchgemischt“, auch das sei anders als sonst. Normalerweise seien es eher so 95 Prozent Frauen, „auch ganz schön!“.

Dabei hat sich an diesem Freitagabend im WERK7, umgeben von Gin- und Schlagerbars, eine bunte Fanvielfalt versammelt: Unzählige FFP-2-Masken im LGBT-Pride-Look treffen auf freie Knöchel und Bäuche, Flatterröcke – und überwiegend Mom Jeans.

Gespräche wie Sprachis

Die Altersgruppen decken nicht nur Gen Z und Millennials ab, auch etwas ältere Semester nehmen auf den blauen Plastiksitzen Platz. „Das Feuilleton liebt mich!“ Nicht alle Männer sind hergezwungen worden, wie Sophie Passmann eruiert. Ein besonders netter holt ihr auf ihren mehrfach geäußerten Wunsch hin stilles Wasser. „Er steht leider auf Männer!“, so seine Begleitung. Die Autorin ist bestürzt: „Wir leben in einer Simulation von ‚Sex and the City‘!“

Das Getränk des Abends ist Weißwein, am liebsten ein guter hessischer. Obwohl sie sich am Abend zuvor dafür entschieden hat, im Sternerestaurant Riesling zu trinken. Wegen dieser kostspieligen Entscheidung vom Vorabend sei sie kurz davor, einen Podcast mit Werbung für O2 aufzunehmen. Wenig später „fürchtet“ sie allerdings schon wegen dieser Aussage den Anruf von Klaas Heufer-Umlauf.

2020 wurde sie einer richtig breiten Masse bekannt, als sie zur Pro7-Primetime „Männerwelten“ im Rahmen der fünfzehn Minuten Sendezeit präsentierte, die Joko und Klaas zur Verfügung stellten. Die Sendung über sexuelle Gewalt gegen Frauen bekam den Grimme-Preis. Aber schon vorher gab es keinen Weg an Sophie Passmann vorbei: Das 2019 erschienene „Alte weiße Männer: Ein Schlichtungsversuch“ (Kiepenheuer & Witsch) stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste, sie schrieb über Frank Ocean und für die „Zeit“ (zuletzt über das Kulturgut „Kardashian“), sie arbeitete fürs „Neo Magazin Royale“ – Podcasterfahrung hat sie natürlich sowieso.

„Ey, ich bin die Stimme einer Generation, du Arschloch!“, wirft sie in den Raum, ihre Schlagfertigkeit ebenso bewundernswert wie ihr geiler Jumpsuit („Ich hab‘ extra für euch Spanx angezogen!“).

„Ich glaube nicht, dass ich heute noch aus dem Buch lesen werde“, bemerkt Sophie Passmann. Im nächste Moment betreten ein paar Nachzügler den Saal: „Ihr seid eine halbe Stunde zu spät!“ Habe man sich lieber im Sausolitos einen Pitcher Frozen Strawberry Daiquiri reingestellt?!

Das Publikum liegt Sophie Passmann zu Füßen und vor Lachen auf dem Boden. Die vergangenen Tage auf Twitter waren geprägt von ihrer Obsession für die „Passion“, die Einkaufsliste von HC Strache und die zunehmende Menge von Placebo-Songs auf ihrer Playlist analog zu ihrer Depression.

Jetzt ist Twitter live

Gelesen wird schließlich doch. Aus dem aktuellen Buch „Komplett Gänsehaut“ eben. Die Autorin nimmt ihren Schmuck ab, nachdem sie erstmal genug intime Dinge ausgeplaudert hat (da wir versprochen haben, nichts zu verraten, bleiben wir kryptisch – ihr Dinnerdate mit Mats Hummels!) und erzählt, warum sie München so mag („weil’s so nah an Wien ist!“).

Der Roman habe bewusst keine Handlung. Unterteilt in drei Abschnitte, beginnen wir in einer leeren Wohnung. „Zu viele Beziehungen, zu viele Freunde, zu viele Monsteras und da muss was weg!“

Die Protagonistin sortiert also aus, ganz zum Schluss das ironisierte Leben selbst. Ist es also ein Buch über das Erwachsenwerden oder vielleicht doch über das Erwachsensein? Mit Ende 20 hat die Hauptfigur in vielen Städten gewohnt, Risotto gekocht und über unzählige Bücher gesprochen, aber warum fühlt sie sich dann immer noch nicht erwachsen? „Komplett Gänsehaut“ handelt von spießiger Bürgerlichkeit und Heterosexualität.

„Liebeskummer ist das emotionale Äquivalent zu einem verlängerten Wochenende in Zürich, extrem teuer und am Ende den Aufwand nicht wert.“ Eine Gästin lacht besonders laut. „Bist du aus Zürich?“ Nein, aber sie habe frischen Liebeskummer. Sofort steht Passmann auf, um die junge Frau zu umarmen und den Duft ihrer Haare zu würdigen. „Er oder sie ist ein Lappen!“

„Das war keine normale Lesung – vielen Dank, dass ihr so süß seid!“ Vor dem Schlussapplaus räumt sie auch nochmal damit auf, wie es denn nun wirklich mit ihrer Liebe zu München stehe: Sehr, sehr gut. Hier sei sie ein anderer Mensch. Aber kein Wunder, wenn es morgens zu „einer Schüssel mit Wasser und Wurst einen Liter Bier“ gibt. Sie selbst hat wirklich mal in München gewohnt, nicht so, wie andere, die nach einer Woche Urlaub sagen, sie hätten jetzt längere Zeit in Italien gelebt.

Nur eine Frage bleibt an diesem Abend: Ist ein Erwachsenwerden überhaupt noch so wichtig, wenn wir ohnehin schon gedünsteten Fenchel essen? Vielleicht hilft die nächste Flasche Weißwein bei der Beantwortung.

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Bildquelle: PASSMANN_PRESS by Laura Schaeffer