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Meinung: Warum könnt ihr nicht aufhören, ständig Menschen zu verurteilen?

Über mich wurde vor einigen Wochen mehrmals auf „Jodel“ gepostet, eine App, in der jeder anonym posten und kommentieren kann, was er möchte und dessen Inhalte (Postings, Bilder, Kommentare) jeder andere User dieser App im Umkreis von 10 km lesen kann. Bei diesen Postings über mich wurden mein Name, mein Arbeitsplatz und meine Arbeitszeiten sowie mein Geburtsort veröffentlicht. Da ich kein User dieser App war und aus dritter Hand erfahren musste, was da vor sich ging, lud ich mir die Jodel-App auf mein Handy und verfolgte die Postings. Als ich dann das dritte Mal mitbekam, dass meine Person in dieser App thematisiert wurde, kommentierte ich in meinem Namen unter das Posting, wie unangenehm es mir sei, dass so öffentlich über mich geschrieben werde und Daten von mir einfach preisgegeben würden. Als Antwort schrieb jemand: „Bist du bei Facebook? Wenn ja, dann darfst nicht rumheulen. Wenn nein, versteh ich’s.“

Ja, ich bin bei Facebook. So what?

Ja, ich habe einen Facebook-Account und dort findet man auch meinen Namen und Arbeitsplatz. Aber das gibt trotzdem niemandem das Recht, diese Daten auf einer völlig anderen Plattform wiederzugeben, die auf eine ganz andere Art und Weise öffentlich ist. Es geht im Grunde auch nicht darum, dass diese Daten veröffentlicht wurden. Mir geht es um die Tatsache, dass Fremde, die auch weiterhin anonym bleiben, sich das Recht herausnehmen, mit der ganzen Stadt, in der ich lebe, über mich zu diskutieren und das Ganze auch noch hinter meinem Rücken. Hier sprechen Menschen, die anonym bleiben dürfen, mit anderen Menschen, die ebenfalls anonym bleiben dürfen, über die einzige Person, die hierbei nicht anonym bleibt: Mich. Und das, ohne mich an der Diskussion Teil haben zu lassen. Ich werde hierbei zu einem Objekt gemacht, über das sich jeder ein Urteil erlauben darf. Alle haben die Möglichkeit mich zu beobachten, mein Wesen und Aussehen zu ver- und beurteilen. Also liebe/r Mrs./Mr. Wenn-du-Facebook-hast-darfst-du-nicht-rumheulen: Ich darf sehr wohl rumheulen. Mich darüber zu beschweren, ist mein gutes Recht. Und eigentlich ist es auch absurd, dass man sich überhaupt dafür rechtfertigen zu müssen scheint, wenn man es nicht in Ordnung findet, dass über eine/n als Person öffentlich diskutiert wird.

Menschen werden einfach zu Objekten gemacht

Was ist das für eine Gesellschaft, in der man in den seltensten Momenten noch als der Mensch, der man ist, gesehen wird, sondern oftmals nur noch als Objekt der Öffentlichkeit? Denn diese Jodel-Postings sind nur ein Beispiel von vielen für dieses Phänomen ständig zu urteilen und beurteilt zu werden. Das reicht von abfälligen Blicken, die man sich auf der Straße einfängt, über inhaltsleere Facebook Kommentare hin zu Internetbewertungen von Dozierenden und Lehrenden, ÄrztInnen und DienstleisterInnen und vielen mehr. Vermutlich kommt nun von einigen Seiten das Argument, dass diese Bewertungen auch nützlich sein können und diese Personen sich ja irgendwo auch bewusst in eine Öffentlichkeit begeben. Aber auch diese Persönlichkeiten, egal in welcher Öffentlichkeit sie sich aufhalten, haben meiner Meinung nach das Recht weiterhin Menschen zu bleiben und nicht zu Objekten gemacht zu werden. Ich möchte gar nicht dazu aufrufen, keine Kritik zu äußern, sich nicht über Erfahrungen auszutauschen oder auch laut auszusprechen, wenn man sich an etwas stört.

Niemand möchte das erleben

Denn genau das versuche ich mit diesem Kommentar selbst. Aber Urteilen ist nicht gleich Kritik – und Bewerten ist ungleich Erfahrungen austauschen. Ist es uns tatsächlich nicht möglich, zu kritisieren ohne zu pauschalisieren und zu reduzieren? Wir sollten lernen, wenn wir über einzelne Menschen oder Menschengruppen sprechen, uns wertfrei und dennoch subjektiv auszudrücken und unsere Kritik am Individuum um Konstruktivität zu bereichern. Ansonsten werden Menschen zu Objekten, die auf eine oder wenige Eigenschaften reduziert und für eben diese verurteilt werden. Und wer möchte das schon selbst erleben?