Musical

Leo, 21, liebt und studiert Musical

„Another one bites the dust. Another one bites the dust. And another one gone and another one gone. Another one bites the dust.“ Leo steht mitten auf dem Prinzregentenplatz in München und singt halblaut zur Musik von Queen. Dazu tanzt er ein bisschen. Er trägt seine schwarzen Kopfhörer, das Kabel hängt lässig an ihm herunter und endet in den Hosentaschen seiner Tanzhose. Ohne die Dinger geht er nie aus dem Haus. Als er mich sieht, drückt er auf Stopp. Keine zwei Minuten entfernt befindet sich seine Musicalschule, die Theaterakademie August Everding.

Nie ohne meine Kopfhörer

Leo ist 21 und kommt aus Landshut, vor drei Wochen hat der Unterricht an der Musicalschule angefangen. Heute wirkt er erschöpft, seine Haare sind zerzaust. „Abends bin ich immer erledigt.“ Seine Tage an der Everding-Schule sind lang und erfordern körperliche Höchstleistungen. „Ich bin eigentlich ständig in Bewegung. An einem gewöhnlichen Tag haben wir vier Kurse, je ein bis zwei Stunden. Ich komme also vormittags auf vier Stunden und nachmittags auch nochmal auf vier – und das jeden Tag. Das ist pures Arbeiten.“ Und der Zeitplan ist streng. „Wenn es heißt, um 9 Uhr ist Jazztanz, dann wird ab Punkt 9 Uhr getanzt“, sagt er. Keine Verzögerung, ohne Ausnahme.

Acht Stunden Tanzen pro Tag

Die hohen Ansprüche, Samstags-Unterricht, Balletttanz, ein eigener Gesangslehrer für Einzelstunden, so vieles ist neu für den 21-Jährigen. An der Everding Theaterakademie gibt es mehr Professoren als Schüler, die Anrede ist per Du, das Verhältnis sehr persönlich. Eine individuelle Betreuung, wie es sie an Universitäten und Hochschulen eher nicht gibt, denn dort sind 300 Studenten in einem überfüllten Vorlesungssaal die Normalität. Die Musical-Schüler müssen sich von Anfang an gut kennenlernen. Kein Vergleich zu den meist nur oberflächlich geschlossenen Freundschaften an gewöhnlichen Unis. „Wir müssen sehr schnell, sehr eng zusammenarbeiten. Mit neuen Leuten, die alle künstlerisch extrem ausgeprägt sind, kann das schwierig werden. Noch kam es glücklicherweise aber zu keinen Streitereien. Vertrauen ist im Musical-Business das Allerwichtigste. Der Umgang der Schüler untereinander ist vor allem auf der Bühne sehr intim, weil es die Umstände verlangen. Wir haben viele Schauspielübungen mit viel Körperkontakt“, sagt Leo. Mit Intimität hat er zum Glück kein Problem, wenn es die Rolle erfordert, würde er auf der Bühne auch einen Mann küssen. „Mädchen küssen sich doch auch ständig einfach so, das sind meine Schauspielkollegen. Das ist für mich kein Stress.“ Ich bin erstaunt von seiner unkomplizierten Gelassenheit.

Keine Zeit für Egoismus

Zeit für Konkurrenzkampf bleibt in Leos Musical-Alltag sowieso nicht viel. „Egoistisches Denken musst du ganz schnell ablegen. Du bist nur der Darsteller, alles, was du tust, tust du zum Wohle deiner Rolle. Nur das zählt. Konkurrenzkampf gibt es immer, den kann man nicht ausschalten, aber er wird so gering gehalten wie möglich.“ Ich frage mich, ob das wirklich so einfach ist. Wenn man rund um die Uhr von hochgradig talentierten Menschen umgeben ist, vergleicht man sich dann nicht ständig? „Natürlich vergleiche ich mich mit anderen, aber das bringt ja nichts. Wenn jemand besser ist als ich, dann pusht mich das eher und ich denke mir, ich will genauso gut werden. Aber dafür bin ich ja hier. Um zu lernen.“

Ich mache das, was ich geil finde

Diese Woche war anstrengend für den Musical-Neuling. An einem Abend war er erst nach 11 Uhr Zuhause, in seinem 10m² Zimmer in einem Münchner Wohnheim. „Schuld“ daran waren die Proben und die intensive Vorbereitung auf das Coming Out am Freitag. Jede Jahrgangsstufe muss sich in den ersten Wochen an der Everding-Schule eine Choreografie ausdenken, um sich vor den Professoren und höheren Jahrgangsstufen zu präsentieren. Leo und die acht anderen Neuen müssen ihr Bestes geben. Er muss schrecklich aufgeregt sein, ich wäre es jedenfalls. „Nein, null. Aufgeregt bin ich vor einem Auftritt nie. Das ist eine meiner guten Eigenschaften.“ Völlig gelassen und ruhig sitzt Leo vor mir auf der Bank und erzählt, er wirkt sehr selbstsicher.

Leo

Bildquelle: Leo Lachnit

Musical ist kitschig? – Mir egal!

Musical ist kitschig? Frauensache?  – „Das ist mir egal. Ich mache das, was ich geil finde und habe auch überhaupt keine Hemmungen, Sachen geil zu finden, die viele nicht mögen.“ Was ihm am Musical besonders gefällt, ist, dass jeder so akzeptiert wird, wie er ist. Leo ist zufrieden mit sich selbst. „Das musst du aber auch sein. Du bist das Objekt, das du verkaufen willst. Wenn du das Objekt nicht magst, kannst du es schlecht verkaufen.“ Zweifel, ob Musical das Richtige für ihn ist, sind lange verflogen. Heute weiß er, dass er genau das machen möchte.

Musical ist das Richtige für mich

Auch wenn Leo oft körperlich an seine Grenzen kommt, ist er stolz und glücklich darüber, auf die Musicalschule gehen zu dürfen. Die Bewerbung dafür war alles andere als ein Kinderspiel, auf eine erste Einladung folgen zwei weitere Vorstellungstermine. Aus über 120 Bewerbern haben nur zehn eine Chance auf einen der heißumkämpften Plätze, doch Leo hat es geschafft und konnte die Jury von sich überzeugen. Er und acht weitere Nachwuchs-Musicaldarsteller aus aller Welt. Fünf Jungen und vier Mädchen, die wenigsten aus Deutschland. Für ihren Traum, Musicalstar zu werden, mussten sie alles zurücklassen. Warum nur so wenige aufgenommen werden können?

Musical Hairspray

Bildquelle: Thomas Mauer

Nur vier staatliche Musicalschulen in Deutschland

Die August Everding Theaterakademie ist eine staatliche Theater- und Musicalschule, davon gibt es im deutschsprachigen Raum nur fünf Stück, vier davon in Deutschland, eine in Wien. Schüler, die dort angenommen werden, müssen keine überteuerten Studiengebühren zahlen wie auf privaten Schulen. Lediglich das Semesterticket und die Semestergebühren, die jeder Münchner Student zahlt. Eine Privatschule hätte sich Leo wie so viele andere nicht leisten können. Um sich seinen großen Traum von der Aufnahme an der Everding erfüllen zu können, hat Leo trainiert, trainiert, trainiert.

Jahrelanges Intensiv-Training für den großen Traum

„Ich habe unendlich viel darauf hingearbeitet, nehme seit über sechs Jahren wöchentlich Gesangsunterricht und seit ein paar Jahren zusätzlich Tanzunterricht. Bei ‚Jugend musiziert‘ habe ich es bis ins Landesfinale geschafft. Ich habe Schauspiel- und Sprechunterricht genommen, spiele Theater und gehe sogar zum Logopäden. Einmal habe ich die Hauptrolle in dem Musicalstück Hairspray bekommen, das bedeutete knapp ein Jahr lang wöchentliche Proben. Ich war also mehr als gut vorbereitet“, erzählt er mir. Trotzdem kann er sein Glück manchmal immer noch nicht fassen.

Drei Jahre dauert sein Studium an der Everding-Akademie, danach hat er einen staatlichen Bachelor. Leo steht noch ganz am Anfang, erst vor ein paar Wochen hat sein neuer Alltag in der Welt der Musicals begonnen. Dass die kommenden Jahre anstrengend und ihn mit Sicherheit oft an seine körperlichen und psychischen Grenzen bringen werden, ist ihm bewusst. „Aber das ist es mir wert. Und wer weiß, wenn ich richtig richtig richtig gut bin, vielleicht verschlägt es mich ja sogar nach New York an den Broadway, für den Master.“ Man kann ja schließlich noch träumen.

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Bildquelle: Thomas Mauer