Liebeserklärung an: Die Zeit zwischen den Jahren
Ich höre nichts, absolut nicht. Ein längst verloren geglaubtes Geräusch der Stille erfüllt meine Ohren. Schwebend lasse ich mich vom Zustand vollkommener Zeitlosigkeit treiben. Wie spät es ist? Welcher Tag? Welcher Monat? Welches Jahr? Ich kann keine dieser Fragen mit Sicherheit beantworten und falle erschöpft von diesem kurzen Moment des Denkens zurück in den flauschigen Kissenhaufen, den ich mir irgendwann errichtet haben muss. In meinem Traum stehe ich inmitten der Kulisse des Filmes „Tatsächlich Liebe“, der charmante Premierminister reicht mir lächelnd einen Glühwein, Schneeflocken fallen sanft zu Boden und gerade als die musikalische Untermalung Mariah Careys zum Finale ansetzt und Hugh Grant mir seine Liebe gestehen will, höre ich ein Klopfen. „Essen wäre fertig!“ Die Worte katapultieren mich zurück in die Wirklichkeit und mit einem dumpfen Schlag lichtet sich mein vernebelter Geisteszustand. Ich bin zuhause bei meinen Eltern und genieße mit den Tagen zwischen Weihnachten und Silvester die schönste Zeit des Jahres.
Kein Anschluss unter dieser Nummer
328 Tage im Jahr tigern wir hektisch von Termin zu Termin. Wir updaten unseren Instafeed alle paar Sekunden, verlassen die Poolbar im Urlaub schon einmal für eine dreistündige Konferenzschaltung ins heimische Büro, lassen auch während des Abendessens mit unserem Partner keine Mail unbeantwortet und haben das Wort „Abwesenheitsnotiz“ längst aus unserem gebräuchlichen Wortschatz gestrichen. Wir sind einfach immer available! Yes, was für ein riesiger Fortschritt. Nope, was für ein krasser Druck. Wer im Laufe des Jahres aus dem Hamsterrad ausbrechen möchte, muss mit harten Konsequenzen rechnen: „Lebst du noch?“ Eine Frage, die früher berechtigt war, hatte man sich auch 4 Tage nach der Alpenüberquerung noch nicht zurückgemeldet, ist heute vollkommen legitim, wenn eine WhatsApp zwei Stunden ohne blaue Häkchen bleibt. Wann das endlich einmal aufhört? Eigentlich nie. Das wunderbare Wörtchen „eigentlich“ steht hier stellvertretend für die schönste Woche des Jahres. Zwischen 24. und 31. Dezember ist plötzlich möglich, was zu anderen Zeiten für das blanke Entsetzen sorgt. Absolut niemand rechnet bei Funkstille mit deinem sicheren Ableben, absolut niemand rechnet überhaupt mit irgendwas. Nur ein einziges Mal im Jahr spazieren wir alle vereint entlang des Müßiggangs, nur ein einziges Mal zelebrieren wir gemeinsam das gepflegte Nichtstun.
Zwischen Bett und Braten: La dolce vita
Den Rhythmus einer Uhr brauche ich an diesen Tagen nicht. Mein Tagesablauf bestimmt sich einzig und allein durch meine Bedürfnisse, denen ich vollkommen frei von Gewissensbissen nachgebe. Ich schlafe, bis mich mein hungriger Magen weckt. Dann geht’s auf zu Oma, die ihre ganze Liebe zu uns in ihr alljährliches Festessen gesteckt hat. Zwanzig Salate, Braten mit Knödel und möchte jemand Nachtisch? Auf alle Fälle! Ups, das war jetzt vielleicht ein kleines bisschen zu viel, aber kein Problem. Ich lege mich für einen nachmittäglichen Nap aufs Sofa. Dass ich vor drei Stunden überhaupt erst aufgestanden bin, ist mir dabei herzlich egal. Kurze Zeit später kitzelt der Geruch von dampfend heißem Kaffee in der Nase und an der Tafel warten neben meinen Verwandten frisch gebackener Kuchen und Weihnachtsplätzchen auf mich. So full, can’t move. Trotzdem schaffe ich es irgendwie (rollend) zurück nach Hause, wo mich mein Bett offensichtlich schon ganz fürchterlich vermisst hat. Nichts ist verlockender, als der Anblick eines „ungemachten“ Bettes. Die Kissen liegen überall verstreut, dem weichen Bettzeug steckt noch der Schlaf in den zerknautschten Federn und so werfe ich mich zurück ins kuschelige Nirvana. Tatsächlich, so bin ich mir sicher: Das muss der Himmel sein! Glückselig greife ich zu meinem Buch und versinke stundenlang in einer Parallelwelt zwischen den Zeilen. Endlich wieder Zeit zum Lesen! Nach einer Weile ertönt ein vertrautes Grummeln. Obwohl ich mir vollkommen darüber im Klaren bin, dass es kein Hungergefühl sein kann, das erhört werden möchte, hole ich mir eine kleine Brotzeit. Krümelnd genieße ich meine ganz private Session von Neflix & Chill und irgendwann werden meine Augenlider schwer und ich falle in einen tiefen Schlaf. Hätte ich auch nur den Ansatz eines Zeitgefühls wüsste ich, dass es erst 21 Uhr ist.
Liebe Zeit zwischen den Jahren! Du lässt mich einmal im Jahr aus dem Trott ausbrechen und bei vollster Gesundheit ganze Tage im Bett verbringen. Dank dir interessiert sich niemand über meinen Verbleib und ich kann völlig in der analogen Versenkung verschwinden. Du bist die gemütlichste Woche im Jahr und das macht dich zu etwas ganz Besonderem. Merci, dass es dich gibt!