Tagträumen Traum Gedanken

Eine Liebeserklärung an: den Tagtraum

Es sind die kleinen Dinge, die uns unseren tristen Alltag versüßen und das Leben ein bisschen besser machen. Ob es hübsche Gänseblümchen sind, die am Straßenrand wachsen oder eine Kugel deiner liebsten Eissorte – wir alle haben kleine Muntermacher in unserem Alltag, über die wir nur selten ein Wort verlieren. Das soll sich jetzt ändern! Wir bieten euch eine Liebeserklärung an die kleinen Dinge, die uns in stressigen Situationen retten, an schleppenden Tagen motivieren oder uns die guten Tage versüßen!

 

Wenn die Welt vor meinen Augen verschwimmt, begebe ich mich mal wieder auf die günstigste Reise, die es gibt. Sie ist gratis. Im Gepäck habe ich nur Zeit und Aufmerksamkeit und reise damit in die Vergangenheit, in die Zukunft und in meine Mitte. Und dazu muss ich mich nicht einen Millimeter bewegen. Klingt nach einem Traum? Ist es auch! Und zwar mein tagtäglicher Tagtraum.

„Ich bin dann mal weg!“, sage ich und gehe nicht. Ich bleibe scheinbar da liegen – unter mir Gras, über mir Himmel und Baumkrone -, schleiche mich aber unscheinbar in eine andere Welt. Ich starre in die Blätter bis sie unscharf werden. Da sind nur noch Umrisse, als würde jemand am Objektiv drehen, um dem Bild die Schärfe zu nehmen. Und so wird langsam grün zu blau und blau zu grün. Schon startet der Film, schon startet die Reise in mich hinein. Ich sehe immer noch das Grün und das Blau, aber jetzt ist da dein Gesicht, wie auf einer Leinwand vor der Leinwand. Ich sehe uns an der Seine entlang spazieren und miteinander lachen. Eine schöne Erinnerung, die sofort unterschiedlichste Gefühle hervorruft.

So sieht es in mir aus. Träume sind aus dem Stoff meines Unterbewusstseins gemacht. Das ist der Ort, der tief in mir all meine Schätze, all meine tief verankerten Ängste und Schmerzen und Erfahrungen bewahrt. Es ist diese Höhle, die mir nur selten Zutritt gewährt. Am leichtesten gelange ich hinein, wenn ich schlafe. Der Film, der mir dann gezeigt wird, ist mir selbst manchmal nicht bekannt. Doch beim Tagträumen kann ich den Film selbst einlegen und damit einen Schritt in die Höhle wagen. Oder auch einfach nur ein paar Gedanken verbildlichen und durchwühlen. Und deshalb liebe ich es!

 

Tagträumen, um bei mir zu sein

 

Mein Gehirn beschäftigt sich dann mit sich selbst. Da wird die Außenwelt ausgeblendet. Da falle ich komplett aus Raum und Zeit und bin ein paar Sekunden nur bei mir. In diesen Sekunden bin ich weder aktiv, noch produktiv, noch effektiv. Ich bin also nicht das, was ich sein soll. Und ich tu nicht das, was ich tun soll. Vielleicht ist Träumen deshalb so verschrien. Aber gerade deshalb ist es doch so wundervoll. In meinen Träumen muss ich nichts und kann alles. Und in meinen Träumen erfahre ich mir zuvor unbewusste Dinge. Denn erst, wenn ich alles um mich unscharf werden lasse, kann ich klarsehen.

Erst dann kann ich einem Gedanken auf den Grund gehen oder vielleicht sogar eine Lösung für ein Problem finden, die ich sonst nie gesehen hätte. Ich kann Erinnerungen immer und immer wieder abspielen und mir zukünftige Ereignisse vorstellen. Ich kann alles sein, was ich will, und dabei meine sehnlichsten Wünsche erkennen.

Wir sind heute viel zu viel unterwegs. Wir reisen nur noch und halten nicht an, weil uns sonst gekündigt wird oder die Selbstverwirklichung nicht klappt. Wir wollen neue Orte finden und dabei auch noch uns selbst. Doch das eine ist nicht automatisch Ergebnis des anderen. Denn wenn unsere Gedanken sich nur mit dem beschäftigen, was um uns herum passiert, aber nie mit uns selbst, geht diese so traumhaft klingende Gleichung nicht auf. Nur, wenn wir uns ab und zu in uns zurückziehen, können wir ohne den Schleier der Erwartungen anderer klar erkennen, was wir wirklich wollen. Nur, wenn wir mal anhalten, finden wir, was wir suchen.

Beim Tagträumen fange ich meine Gedanken ein und konzentriere mich auf einen. Und das funktioniert im Himalaya genauso gut wie in Wuppertal. Wenn mir die Außenwelt zu viel wird, nehme ich ihr kurz die Kanten, lass alles weich werden und spiele einen beliebigen Film ab.

 

Luzides Träumen für Ungeduldige

 

All das passiert bewusst und bestimmt. So wie luzides Träumen. Das ist eine Art des Träumens, bei der man seine Träume im Schlaf aktiv lenkt und beeinflusst. Das kann ich nicht. Aber ich kann tagträumen, auch wenn nur ein paar Sekunden. Ich kann eine Situation nochmal erleben, ein Problem visualisieren oder mir einfach eine kurze Pause gönnen. Ich kann mir den Kurzfilm aussuchen und damit meine Gefühle verändern. Und das kann jeder. Luzides Träumen bedarf Training, Tagträumen nicht. Es ist sozusagen luzides Träumen für Faule und Ungeduldige.

Ich liebe Tagträumen, weil ich damit mein Gedankenkarussell anhalten kann. Wenn ich sonst schon wenig beeinflussen kann, was um mich passiert, dann wenigstens ab und zu den Rummel, der in meinem Kopf stattfindet. Denn so schalte ich nicht nur die Welt um mich herum auf Freeze, sondern stelle auch alles in mir auf lautlos, außer diesen einen Gedanken, dem ich nachhängen möchte. Da tu ich alles, weil ich es möchte, und nicht, weil es verlangt wird.

Diese paar Minuten Tagträumen vor dem Laptop oder auf dem Klo nehmen meinem Alltag die Geschwindigkeit, ermöglichen mir den Zutritt in meine innerste Höhle und lassen mich den Film aussuchen. Ohne das Tagträumen würde ich irgendwann aus der Welt fallen, weil ich vom vielen Gedankenkarussellfahren nicht mehr wüsste, wo oben und unten ist. Beim Tagträumen verliere ich mich, um mich zu finden.

 

An alle Tagträumer: Träumt weiter!

 

Manche nennen mich eine Träumerin und meinen das negativ. Ich würde mich der Realität entziehen, Zeit verschwenden und keine Verantwortung übernehmen wollen. Ich nenne mich Träumerin und bin stolz drauf. An alle Tagträumer da draußen, träumt weiter! Denn wir haben Fantasie, wir haben den Mut, mal einen Moment nicht das zu tun, was von uns erwartet wird, und wir können jederzeit und überall in dieser stressigen Welt Ruhe finden.

Und dann verschwindest du wieder. Dein Gesicht löst sich vor mir wieder in Luft aus. Eben bin ich mit dir noch an der Seine entlang spaziert, doch jetzt geht das Licht im Gedanken-Kino an. Der geträumte Kurzfilm ist vorbei. Dann werden die Wolken, die Blätter, die Äste und die Fliegen über mir wieder scharf. Und plötzlich weiß ich, dass du immer noch da sein wirst, wenn ich dich brauche. Ich muss nur zur Ruhe kommen, meine Augen entspannen, die Kanten weich werden lassen, der Welt die Schärfe nehmen und ein bisschen träumen. Ein Hoch auf das Tagträumen!

 

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Bildquelle: Unsplash unter CC0 Lizenz