Marco, 21, spricht offen über seine Depression und Essstörung
Marco* hat Essstörungen und Depressionen. Dadurch hat der lebensfrohe Junge, mit dem ich zusammen zur Schule gegangen bin, innerhalb von 2 Jahren, viel mehr verloren als nur Gewicht. Seit 2016 besteht sein Leben aus ständigen Auf und Abs. Immer wenn es ihm besser zu gehen scheint, kommt der nächste Rückfall. Im Januar 2018 war er dann an seinem absoluten Tiefpunkt angelangt.
Früher war das anders
Es ist der erste Sommertag des Jahres. Wir sitzen auf einer Decke im Park. Entspannter könnte es fast nicht sein, aber Marco wirkt bedrückt, wie immer eigentlich. Früher war das anders. Er war der Lustige von uns beiden, der Kumpel mit dem man immer eine gute Zeit hatte. Bis heute fällt es mir schwer, den ewig lachenden Jungen in meinen Gedanken durch den selbstreflektierten Mann zu ersetzen, der er heute ist. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es eine gute Idee ist, das Ganze in einen Artikel zu packen. Schließlich geht es um einen meiner besten Freunde, aber als ich Marco davon erzähle, gefällt ihm die Idee. Er findet, dass leider immer noch zu wenig über das Thema gesprochen wird, obwohl Depressionen keine Seltenheit sind.
Er ist es dann schließlich auch, der das Schweigen bricht und zu erzählen beginnt. Das meiste weiß ich natürlich schon, aber am Stück habe ich seine Geschichte noch nie gehört. Ich würde nicht sagen, dass es ihm schwer fällt darüber zu reden, aber er scheint jedes Wort abzuwägen. Man merkt, dass er viel Zeit damit verbracht hat, sich über seine Gedanken und Gefühle klar zu werden.
„Am liebsten hätte ich mir eine Tüte über den Kopf gezogen.“
„Wenig Selbstbewusstsein hatte ich schon immer. In der Pubertät ist es dann schlimmer geworden“, sagt er. „Wenn man merkt, dass Frauen kein Interesse haben, beginnt man sich zu fragen, woran das wohl liegen mag. Ich dachte mir, dass es an mir liegen muss. Ich fühlte mich dick und wollte etwas dagegen unternehmen.“ Während er erzählt, wird seine Stimme immer kräftiger, trotzdem hört man so etwas wie Verbitterung aus ihr heraus. Ein Charakterzug, der so gar nicht zu diesem jungen Menschen passen will. „Am schlimmsten war die Zeit, als ich sehr schlimme Akne hatte. Ich hatte das Gefühl alle würden mich beobachten. Am liebsten hätte ich mir eine Tüte über den Kopf gezogen.“
Im Oktober 2015 entscheidet Marco sich dann dazu abzunehmen. Er isst viel weniger und fährt jeden Tag Rad. Schon nach wenigen Monaten hat er sein Wunschgewicht erreicht. Doch zufrieden ist er nicht und das obwohl viele seiner Freunde und Bekannte ihm zu seinem Körper gratulieren. Mittlerweile widert Essen ihn an. Er muss sich zu jedem Bissen zwingen, ist antriebslos und schläft viel. Auch die Gedanken werden düsterer. Er sieht kaum noch einen Sinn in allem was er tut. Alles was ihm früher wichtig war, interessiert ihn jetzt nicht mehr. Bei einer Größe von 1,86 Metern wiegt er weit unter 60 Kilo. Normal wären über 80.
Die meisten seiner Freunde melden sich gar nicht mehr
Zwar ist ihm selbst klar, dass er zu dünn ist, aber ändern kann er es nicht. Es handelt sich also um keine typische Essstörung, denn Körperwahrnehmungsstörungen hat er nicht. Leider bleibt das Resultat dasselbe. Schließlich vertraut er sich seinen Eltern an, denen natürlich schon länger klar ist, dass etwas mit ihrem Sohn nicht stimmt. Auf ihr Anraten hin begibt er sich in Behandlung.
Während der ganzen Zeit sind seine Eltern für ihn da. Auch wenn es natürlich seltsam für ihn war, sich selbst einzugestehen, dass er ein Problem hat. „Sie unterstützen mich und helfen mir so gut es eben geht, aber ich merke schon, dass es sie bedrückt“, erzählt er. Die meisten seiner Freunde sind weniger verständnisvoll. Sie melden sich gar nicht mehr und das, obwohl sie wissen, wie es ihm geht. Man merkt, dass Marco nicht gern darüber redet, er ist verletzt. Auch heute noch hat er kaum noch etwas mit seinem alten Freundeskreis zu tun. Selbst wenn er zwischendurch versucht wieder Kontakt aufzubauen, bleiben die Antworten doch meist einsilbig.
Marco 2.0
Als er das erste Mal aus der Klinik zurückkommt, geht es ihm besser, er scheint über den Damm zu sein. Sogar ein Studium will er beginnen. Ein Neuanfang. Marco 2.0. Er zieht in eine andere Stadt, beginnt Soziale Arbeit zu studieren und… übernimmt sich. Der Druck ist hoch, er findet kaum Anschluss und zu allem Übel setzt er seine Tabletten ab. Ein Fehler, aber wer könnte es ihm verübeln? Denn mehr als alles andere wünscht Marco sich „normal“ zu sein. Er will auch ohne Tabletten funktionieren, will sich beweisen, dass er es alleine schaffen kann. Bis er es irgendwann nicht mehr aushält: „Ich wollte raus aus meinem Körper…“
„Ich war nicht ich selbst“
Am 10. Januar wacht er morgens auf und hat den Gedanken sich das Leben zu nehmen. „Ich war morgens noch in der Hochschule, aber am Mittag hab ich mir Rasierklingen gekauft.“ Bis heute kann er sich nicht erklären, was genau an diesem Tag eigentlich los war: „Ich war nicht ich selbst“. Doch Marco tut das Richtige und holt sich in dieser dunklen Stunde Hilfe. Er kontaktiert seine engsten Vertrauten, seine Eltern, die sich sofort kümmern.
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Bei all dem Schrecken weiß er jetzt jedoch, dass er leben und weiter kämpfen will. Und seine Geschichte zeigt, wie schnell man in etwas hinein gerät, aus dem man alleine nicht mehr heraus kommt. Und wie wichtig es ist, mit der Familie, Freunden oder einer professionellen Beratungsstelle zu reden, wenn es einem schlecht geht. Aber auch die andere Seite, die Familie und Freunde einer betroffenen Person, sollten nie davor zurückschrecken, das Thema anzusprechen. Denn selbst der „lustige“ Kumpel ist manchmal trauriger als man denkt.
„Mein Hauptziel ist es aber, wieder Freude am Leben zu empfinden.“
Zurzeit ist Marco wieder zu Hause bei seiner Familie und versucht, seine Depression selbst in den Griff zu bekommen. Er liest viel und geht spazieren. Zwar ist Essen immer noch ein Kampf, aber dafür fällt es ihm mittlerweile leichter, auf Menschen zuzugehen und auch mal anzusprechen, wenn ihm etwas nicht gefällt. Auch sein Verhältnis zu Gott ist ihm heute wichtiger als früher. „Ich merke, dass es mir hilft in die Kirche zu gehen. Ich kann zur Ruhe kommen, abschalten. Der Glaube trägt mich teilweise wirklich durch den Tag.“ Als er davon erzählt, lächelt er. „Mein Hauptziel ist es aber, wieder Freude am Leben zu empfinden und mich eben anzunehmen wie ich bin. Diese… Glücksmomente wieder zu erleben, das wäre ein großer Wunsch.“
Am Schluss haben wir uns dann ein Eis gekauft. Das mag vielleicht nicht besonders klingen, aber irgendwie war es das doch. Es war das erste Mal seit zwei Jahren, dass ich ihn habe etwas essen sehen.
*Name von der Redaktion geändert
Falls du glaubst, an einer Depression erkrankt zu sein, oder falls Freunde Symptome zeigen, dann wende dich bitte an das Info-Telefon Depression: 0800/ 33 44 533. Regionale Angebote findest du hier, Adressen von Kliniken und Beratungsstellen hier.